„Jetzt kann man sich nicht mehr einigen“

■ Die Bundesregierung muß sich von Sudetendeutschen distanzieren und Gesten zeigen

Petr Pithart (56), Mitglied der Oppositionsbewegung Charta 77, war nach der Wende von 1989 bis 1992 tschechischer Ministerpräsident. Heute lehrt er Jura an der Prager Karlsuniversität.

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taz: Herr Pithart, in der Bundesrepublik geht man davon aus, daß die gemeinsame Erklärung des deutschen und des tschechischen Parlaments zur gemeinsamen Vergangenheit gescheitert ist. Wer trägt dafür die Verantwortung?

Petr Pithart: In Tschechien weiß man über den Inhalt dieser Erklärung eigentlich nichts. Obwohl sich die Journalisten sehr bemühen, läßt die tschechische Regierung fast keine Informationen heraus. Sollte die Erklärung aber tatsächlich gescheitert sein, sind sicher beide Seiten daran schuld. Wenn es um die deutsche Seite geht, so hat die Bundesregierung bis heute nicht klar gemacht, hinter welche Forderungen der Sudetendeutschen sie sich stellt. Ist der deutsche Standpunkt etwa ein sudentedeutscher? Darüber herrscht hier völlige Unklarheit.

Deutschland trägt aber noch in einem zweiten Punkt Verantwortung für das Scheitern, und der ist sehr wichtig. Die tschechischen Opfer der deutschen Besatzung Böhmens und Mährens hätten schon lange entschädigt werden müssen, und dies unabhängig vom Freundschaftsvertrag 1992 oder den jetzigen Gesprächen.

Die Öffentlichkeit in Tschechien war einfach nicht auf diese Verhandlungen vorbereitet, trotz unendlich vieler Diskussionen über die Vertreibung. Doch diese wurden meist von Intellektuellen, nicht von „normalen Leuten“ geführt. Wir befinden uns jetzt etwa in der gleichen Situation wie Deutschland zu Beginn der 50er Jahre. Die große Wende von 1989 liegt sechs Jahre hinter uns, aber wir haben noch nicht mit einer umfassenden Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen. Im Frühjahr dieses Jahres sind Wahlen, und die deutsche Frage ist eine sehr effektive Karte im Vorwahlkampf. Vor allem die Kommunisten werden sie auspielen.

Eines der Haupthindernisse für eine Einigung besteht doch darin, daß ständig danach geforscht hat, welche Seite zuerst gegen Menschenrechte verstoßen hat.

Die Suche nach der historischen „Wahrheit“ ist natürlich unerläßlich. Doch Politiker dürfen ihre Entscheidungen nicht von der Frage bestimmen lassen, wer mit dem ganzen Unrecht angefangen hat. Doch genau das ist für die Tschechen entscheidend.

War das Ziel, mit einer einzigen Erklärung alle Probleme der Vergangenheit zu lösen, nicht zu hoch gesteckt?

Nein, symbolische Schritte reichen jetzt nicht mehr. Die gab es, vor allem von tschechischer Seite, genug. Daß zum Beispiel Havels Bedauern über die Vertreibung keine deutsche Antwort erhielt, stößt hier auf großes Befremden.

Die tschechische Regierung lehnt es ab, sich von den Beneš- Dekreten zur Vertreibung zu distanzieren. Würden Sie anders handeln, wenn Sie heute noch Premierminister wären?

Ja, das würde ich. Denn die Beneš-Dekrete gehen von einer Kollektivschuld der Deutschen aus. Ich würde sie nicht von Anfang an für ungültig erklären, schließlich tun die Deutschen das auch nicht mit dem Münchner Vertrag. Außerdem, und das weiß heute fast keiner, haben diese Dekrete inzwischen ihre Gültigkeit verloren. Die tschechische Regierung lehnt es jedoch ab, sich moralisch von den Dekreten zu distanzieren, weil sie befürchtet, daß die Sudetendeutschen hieraus Forderungen ableiten. Daher müßte hier wiederum die deutsche Seite klare Worte finden, daß dies nicht geschehen wird.

Was bedeutet das Scheitern der gemeinsamen Erklärung?

Das Scheitern erweckt natürlich keinen besonders großen Optimismus. Jetzt kann man sich nicht mehr einigen, weil die tschechischen Wahlen näherrücken, aber eigentlich sind doch stets irgendwo Wahlen. Interview: Sabine Herre