Getrommel älterer Herren

■ Jelzin ist mit seinem Latein endgültig am Ende

Der russische Präsident wußte gleich ganz genau, wer an dem jüngsten Geiseldrama in Kisljar schuld ist. Die Grenztruppen hätten geschlafen und nichts aus der Tragödie von Budjonnowsk gelernt, wetterte Boris Jelzin. Daß auch er selbst und seine Regierung aus dem Tschetschenienkonflikt nichts gelernt und nichts begriffen haben, zeigen die Reaktionen aus Moskau: wüste Drohungen, der Ruf nach Bestrafung der Rebellen und die Entsendung zusätzlicher Truppen in die Kaukasusrepublik. Sogar der russische Geheimdienst soll jetzt eingeschaltet werden, um die Anführer der Aufständischen zu „vernichten“. Das Getrommel der älteren Herren im Kreml kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Rußland mit seiner Tschetschenienpolitik endgültig am Ende ist. Die Ankündigung des tschetschenischen „Regierungschefs“ von Moskaus Gnaden, Doku Sawgajew, nach dem Vorfall Mitglieder seiner Regierung auszutauschen, zeugt entweder von Zynismus oder von geistiger Umnachtung. Denn gerade diese „Regierung“ ist es doch, die die Rebellen (zu Recht) nicht anerkennen.

Sie wollen mit der russischen Regierung direkt verhandeln. Und so ist die Geiselnahme in Kisljar ein Versuch, Moskau, das seit den Wahlen jede Verantwortung auf seinen Statthalter Sawgajew abschiebt, mit Gewalt an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Das war schon im letzten Juni so. Damals gab es eine reale Chance auf Frieden. Doch die wurde, nicht zuletzt durch Moskaus halbherzige Verhandlungsführung, vertan.

Seither hält die russische Regierung unbeirrt an ihrer „Politik der Stärke“ fest. Opfer dieser neuen Eskalation des Konflikts im Kaukasus könnte – neben den Zivilisten, Rebellen und Angehörigen der russischen Truppen – auch Boris Jelzin werden. Spätestens dann, wenn sich der amtierende Präsident im Juni erneut um das höchste Amt im Staat bewirbt.

Zumindest eine Katastrophe wie bei der Geiselnahme im vergangenen Juni scheint in Kisljar abgewendet. Wie auch immer das Drama diesmal ausgeht: Der Konflikt ist damit keineswegs beendet. Schon jetzt hat Rebellenführer Dschochar Dudajew damit gedroht, daß es auch künftig ähnliche Aktionen geben werde. Wenn Moskau diese Warnungen nicht ernst nimmt, dann ist absehbar, daß das Sterben im Kaukasus unvermindert weitergeht. Denn wie schnell die Rebellen zuschlagen und damit das angeblich so mächtige Rußland regelrecht vorführen können, hat die brutale Geiselnahme von Kisljar deutlich gemacht. Barbara Oertel