Ein eigenwilliger Kopf

■ Hertha Borchert war mehr als nur Mutter eines berühmten Sohnes / Heute wäre die Erzählerin und „Staatsfeindin“ 100 Jahre alt geworden

März 1933, in einem Treppenhaus in der Tarpenbekstraße 82: Eine Frau äußert ihren Mißmut über die dreist durch die Stadt marschierenden Nazis mit den braunen Hemden. Aber die Wände haben Ohren – ein Mitbewohner hört ihre Bemerkung, die so oder ähnlich später wohl noch häufiger fallen wird. Erst zweieinhalb Jahre später macht der Mann davon Gebrauch: Er denunziert seine Nachbarin beim Reichsverband Deutscher Autoren und beim Propagandaministerium, um sich Vorteile zu verschaffen. Der Reichssender Hamburg, lautet die Beschwerde, lehne seine Manuskripte ab; „staatsfeindlich eingestellte Kräfte“ jedoch fänden mit ihren Texten Beachtung . . .

Die Sache ging glimpflich aus. Im Herbst 1935 war die couragierte Frau als Hörfunk- und Zeitungsautorin in Hamburg bekannt und hatte Freunde in Sender wie Berufsverband. Ihre Beiträge wurden weiterhin ausgestrahlt und gedruckt. Heute jedoch ist Hertha Borcherts literarisches Werk vergessen – mit dem Tod ihres Sohnes Wolfgang wurde sie 1947 öffentlich auf die Rolle der Mutter des frühverstorbenen Schriftstellers reduziert, ohne daß dabei ihr politischer und kultureller Einfluß auf ihn jemals Beachtung gefunden hätte.

Als Hertha Salchow am 17. Februar 1895 in den Vierlanden geboren, wuchs sie im Kirchwerder Schulhaus auf. Und sie muß bereits früh einen eigenwilligen Kopf gehabt haben: Im Alter von 16 Jahren stand für sie fest, mit dem Junglehrer Fritz Borchert in die Stadt zu gehen, nach Hamburg – mochte der Vater auch noch zwei Wartejahre bis zur Heirat ertrotzen. 1914 fand Fritz Borchert Beschäftigung in Eppendorf; Hertha und er zogen in die Tarpenbekstraße. Schon bald entstanden Kontakte zu ungewöhnlichen Leuten, die Maler Paul und Martin Schwemer, der Bildhauer Opfermann, der Graphiker und dadaistische Schriftsteller Karl Lorenz gehörten zum Freundeskreis, in dem intensiv gelesen und diskutiert wurde. Bis zur Geburt von Wolfgang im Jahr 1921 bestimmte der intellektuelle Austausch Hertha Borcherts Leben.

Zum eigenen Schreiben kam sie erst, als sie den in der Großstadt aufgewachsenen Freunden vom Leben draußen in den Vierlanden erzählte. Erzählen – hierin konnte sich ihre Phantasie und Formulierungskunst entfalten. Als Fritz Borchert sie anregte, doch auch einmal etwas aufzuschreiben, verwendete sie dafür souverän die plattdeutsche Sprache ihrer Kindheit. Im Dezember 1927 gab ihr Mann heimlich einen Text an die Hamburger Nachrichten – die Veröffentlichung wurde zum Ansporn für eine intensive literarische Produktion. Zumeist ging es in Hertha Borcherts Geschichten um eigene Erlebnisse aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende; sie vermied aber das allzu nostalgische Idyllisieren der doch recht beschwerlichen Existenzbedingungen in den Bauernhäusern und Katen.

Publikum und Markt für solche Geschichten aus dem ländlichen Leben fanden sich in der vielfältig organisierten plattdeutschen Szene, und die Nachfrage der Zeitungsredakteure motivierte die Autorin, sich auf dieses Genre zu konzentrieren. Andere mögliche Richtungen des Schreibens vernachlässigte sie. Bald entstanden auch Kontakte zum Rundfunk, die hier gezahlten Honorare stabilisierten ebenfalls den einmal eingeschlagenen künstlerischen Weg, mochte er auch in eine kulturelle Nische führen. Anders als die meisten plattdeutschen Autoren – schreibende Frauen bildeten ohnehin seltene Ausnahmen – verweigerte Hertha Borchert aber die hemmungslose Ideologisierung ihrer Texte, obwohl der äußere Druck nicht gering war.

Politische Opposition und kulturelle Vielseitigkeit, diese Faktoren prägten auch den heranwachsenden Wolfgang nachhaltig. Die literarische Atmosphäre daheim dürfte seine Berufswahl – erst Buchhändler, dann Schauspieler – maßgeblich beeinflußt haben. Der plötzliche und überragende schriftstellerische Erfolg des körperlich ruinierten Kriegsheimkehrers ließ Hertha Borchert verstummen; bis zu ihrem Tod 1985 hat sie nie wieder richtig zu schreiben angefangen. Dem Weltruhm ihres Sohnes hätte sie ja auch „nur“ plattdeutsche Geschichten entgegenhalten können – damals wie heute wahrlich kein angesehenes Genre.

Irgendwann hat Hertha Borchert die Rolle der Mutter und Nachlaßwahrerin Wolfgangs akzeptiert, ihre eigene literarische Identität aufgegeben. Anders als ihr Sohn war sie in ihrer Arbeit autonom, konnte ihm eine Fülle von Anregungen und Orientierungen geben. Dieser Aspekt ihrer Rolle ist bislang unterschätzt worden.

Kay Dohnke