Im Thesenwald

■ Kampnagel: Vier kluge Köpfe sprachen über ein Jahrhundert

Hätte eine konservative Diktatur 1933 den Faschismus verhindert (Dan Diner)? Ist der zunehmende Ironieverlust in der deutschen Philosophie bis zum „erbarmungslosen Ernst“ Heideggers ein Warnsystem für die herannahende Katastrophe des Dritten Reichs gewesen (Karl Heinz Bohrer)? Herrscht beim deutschen „Subkleinbürger“ des Jahres 1995 ein „bedrohlicher rassistischer Konsens“, der uns zwingt, sich mit den Vorgängen, die zum deutschen Faschismus führten, aktuell zu beschäftigen (Ivan Nagel)? Stehen die Autoren des rechten Aufsatzbandes Die selbstbewußte Nation in der „direkten Tradition der Verteidigungen von Nürnberg“, die Auschwitz gegen Dresden und Hiroshima aufrechneten, besitzen Ernst Nolte und Konsorten also „einen affirmativen Zug zu den Mordtaten der Nazis“ (Jan Philipp Reemtsma)?

Gegenfrage: Kann man auch nur eine dieser Fragen in einem zweistündigen Podiumsgespräch mit vier Geisteswissenschaftlern wenigstens in Umrissen klären? Man kann nicht! Aber vielleicht sollte man es auch gar nicht versuchen. Oder besser noch: Man sollte zu einer akademischen Podiumsdiskussion mit dem Titel Auschwitz, Gulag, Hiroshima – Ein Jahrhundert der Gewalt (in anderer Version: ...der Barbarei) nicht mit der Erwartung gehen, ein strukturiertes, ergebnisorientiertes Gespräch zu erleben. Befangen von den eigenen Denksystemen und Thesengerüsten werden vier so kluge Köpfe wie die hier anwesenden Stichworte der anderen jeweils nur dazu nutzen, im eigenen Wörtergarten spazieren zu gehen.

Doch gerade in dieser zwangsläufigen Unkonzentriertheit liegt der Wert solcher Podien. Beim Sammeln von Thesen und Hinweisen hilft einem zwar nur die eigenen Assoziationsfähigkeit und ein Blatt Papier über die Frustration einer zu schlicht schematisierten Erwartungshaltung hinweg, aber wer sich einfach vollstopfen läßt, lernt schnell zu schmecken.

Etwa Dan Diners These von der Strukturgleichheit der theologischen Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen und der Debatte über die historische Einzigartigkeit des Holocaust, die er für einen versteckten Diskurs über das auserwählte Volk hält. Oder Bohrers Behauptung, daß eine subjektiv-moralische Verarbeitung von Auschwitz unmöglich sei und den Deutschen lediglich das politisch-symbolische Ritual zu Gebote steht. Wenn es denn Rede und Gegenrede gab, wie über Diners Behauptung, Auschwitz wäre ein solches Abstraktum, daß eine Bebilderung dieses Ereignisses nur über Bilder anderer barbarischer Akte dieses Jahrhunderts möglich sei, dann blieben die Erwiderungen unter dem Stichwort: „Nur kurz zu meinem Vorredner...“ Gedankensammeln hieß also das Gebot der Stunde.

Till Briegleb