Wohnen bei abgesenktem Standard

■ 6000 Hamburger leben auf der Straße, weitere 70.000 sind wohnungslos. Dafür hat die Selbsthilfegruppe „Oase“ jetzt ein Zuhause Von Fritz Gleiß

„Hamburg ist schön, aber es hat zu viele arme Leute“, sagt Georg. Georg ist 67, obdachlos, und möchte am liebsten abhauen. Derzeit schläft er mit 250 anderen Männern im „Piko“, der bestgehaßten Notunterkunft der Stadt. Rund 4000 Betten gibt es in Hamburg in solchen Häusern, einige weitere tausend in kommerziell betriebenen Kaschemmen. Die öffentlich bekanntesten Übernachtungsplätze für Obdachlose stellt jährlich das „Winternotprogramm“ der BAGS bereit. Nach 150 im Vorjahr waren es diesen Winter gerade noch 100 Plätze. Ende März ist auch damit wieder Schluß.

Rund um die Alster leben mehr als 6000 Menschen auf der Straße, schätzt der Hamburger Arbeitskreis Wohnraumversorgung (AKWo). Fast noch mal so viele schlafen in „Sonderwohnformen mit abgesenktem Standard“ wie dem Piko, in Containerdörfern, Wohnwagen oder Pfahlbauten. Und nochmals mehrere tausend Menschen leben auf einem der „Wohnschiffe“. Der AKWo, ein Zusammenschluß mit dem Thema befaßter Profis, befürchtet die Herausbildung dauerhafter „südamerikanischer Slumstandards“. Die Versorgung in den staatlichen Unterkünften verläuft entlang der Linien Armenspeisung – Kleiderkammer – Waschhaus – Mehrbettzimmer. „Almosensystem!“ schimpft Helmuth Schmidtke vom AKWo.

Fragt man bei Hamburger Behörden nach, verwendet jede andere, ihr genehme Zahlen. Trotzdem sind manche Dinge klar: Neben den Obdachlosen sind mindestens 70.000 weitere HamburgerInnen wohnungslos, und die Zahl steigt. Angesichts derart großer Zahlen spricht normalerweise jede und jeder von „Strukturproblemen“ - von zunehmender Armut in der unteren Gesellschaftshälfte, von viel zu hohen, viel zu schnell steigenden Mieten, von Spekulantentum und stillgelegtem Sozialwohnungsbau.

Nicht so bei den Wohnungslosen. Dort regiert oft der Glaube an die „Selbst-“, zumindest aber „Mitschuld“ der Betroffenen. Dabei ist ganz unbestreitbar: Seit Jahren gibt es in Hamburg Zigtausend mehr Haushalte als Wohnungen. Öffentliche Bauvorhaben ändern daran nichts.

Georg weiß sich noch einigermaßen selbst zu helfen. Er braucht frische Unterwäsche. Die gibt es kostenlos bei der „Oase“, Hamburgs einziger Selbsthilfegruppe Obdachloser. Die Gruppe besteht seit zwei Jahren und war maßgeblich am Entstehen von „Hinz & Kunz(t)“ beteiligt. Sie wehrt sich gegen die schleichende Entmündigung, der Obdachlose ausgesetzt seien. In Wohnheimen und Beratungsstellen werde den Betroffenen zu viel Verantwortung abgenommen, sagt Oase-Mitarbeiter Manfred. Die Beratung setze oft „einfach zu früh“ ein. Manche Sozialarbeiter widersprechen da: Gerade im Vorfeld, bei der Wohnraumsicherung, geschehe noch immer viel zu wenig. Steht der Mensch erst auf der Straße, ist es zu spät. Höchstens zwei-, dreihundert Betroffenen verhelfen die öffentlichen Beratungsstellen in Hamburg pro Jahr zu einer neuen Bleibe. „Der Abfluß ist verstopft“, klagt ein Sozialarbeiter.

„Angenehm warm ha'm sie's hier“, freut sich Georg, als er den Raum betritt. Oase-Mitglied Rosi kann ihm beim Problem Unterwäsche helfen, obwohl sie vorerst eigentlich nur gespendete Kleidung für Frauen lagert. „Wir sind raffgierig“, albert sie herum. Vor Kleider- und Möbelspenden könne sie sich kaum retten, was fehlt ist Lagerraum. Und Wohnraum, selbstverständlich.

Georg ist nur vorübergehend in der Stadt; er braucht einen neuen Paß. Wenn alles geregelt ist, will er wieder weg. Manfred sagt: „Neugierde ist das letzte, was einem bleibt.“ Und dann zu Georg: „Wenn Du irgendwann Lust hast, zur Ruhe zu kommen, klopf wieder an.“ Dabei denkt er an die „Chance, nicht mehr allein zu sein, zu lernen, sich selbst auszuhalten, Bindungen einzugehen“. Manfreds Traum: die Wohngemeinschaft vormals Obdachloser.

Ihre eigenen vier Wände hat die Oase erst vor einer Woche bezogen: Einen Büro- und Gruppenraum, Küche, samt dreier Zimmer zum vorübergehenden Wohnen von Mitgliedern. Nach einer Odyssee durch die halbe Stadt, hat die Gruppe endlich ein Zuhause. Ein Stadthaus in der Fruchtallee 17, direkt am U-Bahnhof Christuskirche. Einer der Vermieter stand selbst einmal auf der Straße. Von hier aus will sich die Gruppe einbringen ins Eimsbütteler Leben.