Die freie Szene ist ein heterogener Mythos

Dem Theater am Halleschen Ufer steht ein Leitungswechsel bevor. Im Dezember äußerte sich Nele Hertling vom Hebbel Theater über das zukünftige Profil des Hauses – jetzt antwortet ein Mitglied des Beirats für freie Gruppen:  ■ Hartmut Krug

Von überall strömen sie nach Berlin, die freien Theatermacher: aus Bielefeld und Bremen, aus Wien und Zürich. Sie kommen mit theatralischen Utopien oder pragmatischen Ideen, mit fester Gruppe oder als arbeitslose Schauspieler. Nur eines bringen sie nicht mit: eigene Fördermittel.

Noch immer ist Berlin das Zentrum des freien Theaters in Deutschland – quantitativ. Noch immer wird nirgendwo in Deutschland die freie Theaterszene so kräftig gefördert wie in Berlin, wenn man die Berliner mit der Förderung freier Gruppen im übrigen deutschsprachigen Raum vergleicht und nicht mit den Summen, die staatlich hoch subventionierte Privat-, Stadt- und Staatstheater zugewiesen bekommen.

Auch wenn die Gewerbemieten in Berlin kräftig steigen, auch wenn manch ehemals besetztes Haus und eingesessene Kieztheater ihre Spielstätten verlieren: die Szene ist groß. Größer als ihr Publikum. Noch immer kann sich jeder auf eine Bühne stellen. Das ist schön und schrecklich zugleich. Schön, weil die individuelle künstlerische Selbstverwirklichung damit jedem möglich ist. Schrecklich aus dem gleichen Grund.

Aber auch, weil für jede einzelne Gruppe wieder nur Krümel aus dem Topf bleiben, wenn überhaupt. Freies Theater ist von seiner Entstehungsgeschichte her alternatives oder zusätzliches Theater. Die langjährigen freien Berliner Theater, manche von ihnen mit fast regelmäßigem Repertoire und festem Haus, unterscheiden sich mittlerweile allenfalls noch in der Produktionsweise von eingesessenen Privattheatern. Die freie Szene ist ein heterogener Mythos geworden.

Was in dieser Fülle von freiem Theater not tut, ist Konzentration. Was die Unmenge theatraler Tummelplätze braucht, ist eine große Bühne als Mittelpunkt. Aus inhaltlichen wie aus ökonomischen Gründen, denn immer mehr freie Theater werden in den nächsten Jahren ihre Spielstätten nicht mehr halten können. Nicht jeder hat es so gut wie das ewig jammernde Teatr Kreatur, das neben seiner Optionsförderung noch einmal die Hälfte dieser Optionsförderungssumme als Mietzahlungsübernahme vom Senat hinzubekommt, wenn die zur Zeit vom Eigentümer als Investor ausgebaute Spielstätte Worons auf zwei Stockwerken fertig ist. Zehn Jahre Sicherheit hat man dann, durch die „Gewährleistung“ des Senats. Ganz für sich allein.

Die anderen, auch die größeren freien Bühnen, brauchen das Theater am Halleschen Ufer. Seit Urzeiten, seit die Schaubühne das Theater am Halleschen Ufer Richtung Ku'damm verlassen hat, gibt es diesen Traum vom zentralen Spielort freier Gruppen in Berlin. Nun haben wir, nach langjähriger trauriger Theatermanufakturzeit, seit drei Jahren diese Spielstätte. Doch irgendwie klappt das auch wieder nicht so richtig. Liegt's an den Leuten, liegt's am Modell, liegt es an vielerlei Begehrlichkeiten aus und in der Berliner Theaterlandschaft? Es liegt an allem und könnte doch so einfach sein.

Das Theater am Halleschen Ufer ist bereits als Spielstätte eine Produktionsstätte. Rund 300 freie Gruppen tummeln sich in Berlin, mehr als 60 von ihnen bekommen staatliche Gelder: aus der Optionsförderung, aus der Projektförderung, aus der sozialen Künstlerförderung, vom Kulturfonds oder vom Lottostiftungsrat, von der Frauenförderung oder von den Bezirken. Kleine Summen zumeist, doch man kann arbeiten. Künstlerische Ideen entwickeln.

Das müßte eine künstlerische Leitung vom Theater am Halleschen Ufer auch. Mit dem vorhandenen kreativen Berliner Potential arbeiten. Sich anregend und angeregt in die Szene begeben. Gruppen und Ideen zusammenführen, meinetwegen sogar vernetzen, schauen, sehen, diskutieren, befördern. Schwerpunkte anregen. Studenten der Schauspiel- und Kunsthochschulen holen, um das Haus optisch und inhaltlich lebendig zu machen. Ein lebendiges Zentrum schaffen. Dafür gibt's immerhin 1.163.760 Mark Betriebskosten, und die Verwaltungsarbeit nimmt die im Podewil sitzende Verwaltungs- und Veranstaltungs GmbH ab. Welche Möglichkeit, wenn man Ideen hat und die Berliner Szene kennt und kennenlernen möchte. Ein Hausmeisterjob, wie der scheidende Leiter Hartmut Henne wehklagend meint: welch groteskes Mißverständnis über die Möglichkeiten eines Theaterleiters.

Theaterleiter wollen meist nicht nur künstlerische Ideen haben, sondern auch sofort die Macht, sie umzusetzen. Produktionsmittel heißt das Zauberwort. Auch Nele Hertling fordert sie für das Theater am Halleschen Ufer. Ich kenne kein Theater im freien Bereich in Deutschland, das so viele Produktionsmittel nutzen könnte. Indirekte Produktionsmittel natürlich. Das Theater am Halleschen Ufer hat die Bühne, besitzt die Probemöglichkeiten, es hat Ideen und kann aus einer Fülle geförderter Gruppen wählen: welch keineswegs einfache, aber doch anregende Situation für eine findige Theaterleitung. Die natürlich mit den Förderkommissionen zusammenarbeiten könnte und müßte.

Natürlich: Mehr Macht hat man, wenn man selbst mit Geld Künstler anregen kann. Doch der auch von Nele Hertling beschworene Mythos vom Profil, das ein Theaterleiter nur mit eigenen Produktionsmitteln schaffen könne, er ist ein falscher Mythos. Jedenfalls in Berlin mit seiner reichhaltigen freien Theaterszene.

Wer ein Theater leitet, muß nicht selbst produzieren. Er muß nicht unbedingt Geldgeber, sondern Ideengeber sein. Außerdem: Ob man, wie Hartmut Henne, zu täglicher Bespielung tendiert, wobei die einzelnen Gruppen nur (zu) kurze Vorstellungsserien bekommen, oder ob man bei geringerer Bespielungsfrequenz eine Konzentration auf profilbestimmende Gruppen durchführt – auch das wirkt profilbestimmend. Eine findige Leitung kann bei geschickter Organisation und Personalpolitik viel anregen und umsetzen, auch mit Geld aus dem vorhandenen Etat.

Das Hebbel Theater ist ein Beispiel dafür, daß auch die Verwendung von Geldern als Produktionsmittel aus dem Etat (6.844.000 Mark) nicht unbedingt immer der Theaterkunst nutzt. Zumal, wenn man eng vernetzt ist mit anderen Theaterzentren. Denn dann wird man unbeweglich, bewegt sich allenfalls auf den eingefahrenen Bahnen seiner mitteleuropäischen Tanzschiene und überprüft seinen Avantgardebegriff nur schwer.

Vernetzung, das Zauberwort in der internationalen Avantgarde- Gastspielszene, ist nicht nur ein Wort, das Verbindungen schafft, sondern das auch ausgrenzt. Nämlich das, was man nicht mit ins Netz bindet. Während der letztjährigen Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Hamburg wurde von der Zagreber Festivalmacherin Gordana Vnuk ein vehementer Angriff formuliert gegen die normierende Macht mitteleuropäischer Avantgardefestivals und Gastspielhäuser.

Es ist ja noch viel schlimmer: Als (Co-)Produzent mit immer den gleichen Partnern zusammengebunden, verschläft man das leicht Abseitige, das neu Entstehende. Wieviel im Kern konservativer Theaterramsch im letzten Jahr zum Beispiel unter dem weiten Deckmantel der internationalen Avantgarde zu sehen war im Hebbel Theater, das bestürzt im Rückblick genauso wie die Freude darüber, daß internationale Highlights wie Wilson oder Meg Stuart hier gastierten.

Das Theater am Halleschen Ufer kann nicht der kleinere Bruder vom Hebbel Theater sein. Sein Schwerpunkt ist das freie Berliner Theater (ein Schwerpunkt im Schwerpunkt ist das Tanztheater). Auch aus dem Einflußbereich des Hebbel Theaters muß es sich heraushalten. Muß es herausgehalten werden! Hier gibt es natürlich kulturpolitische Begehrlichkeiten. Nur darin gebe ich Nele Hertling recht: Das Theater am Halleschen Ufer muß ein eigenes Profil bekommen. Als Schaufenster und lebendiger Spielort der freien Berliner Szene und als Ort für attraktive Gastspiele. Die nicht nur hier stattfanden, weil das Hebbel Theater für sie zu groß ist, sondern weil sie in ein künstlerisches Konzept passen und unverwechselbar sind.

Nur mit lebendiger Unverwechselbarkeit wird das Theater am Halleschen Ufer sich in den nächsten, finanziell schwierigen Zeiten behaupten können. Ob das Haus von einer oder von zwei oder mehr Personen künstlerisch geleitet wird, das ist eher zweitrangig. Zu freier Theaterarbeit muß die neue Leitung eine eigene Meinung haben, damit das Haus für freies Theater aller Sparten die Besonderheiten und die besonderen Qualitäten frei produzierten Theaters in Berlin vorstellt. Noch glaube ich nicht (ganz), daß die Hamburger Theatermacherin Barbara Bilabel recht hat, wenn sie sagt: „Man kann heute an einem Schauspielhaus dasselbe machen wie in der freien Szene, nur besser.“

Das Profil des Theaters am Halleschen Ufer wird auch davon bestimmt sein, die Notwendigkeit freier professioneller Theaterarbeit in Berlin immer wieder neu zu behaupten und zu beweisen.