Nach uns nichts Nennenswertes

Unsere Dichter mittleren Alters schlagen sich bekanntermaßen am liebsten dem ersten Lager zu. Manchmal kann man den Eindruck bekommen, daß die Rhetorik der Apokalypse eine Art Naturzustand der literarischen Imagination ist, so etwa, wenn man den Text „Aus einem unveröffentlichten Manuskript“ von Botho Strauß im Jahrbuch „Der Pfahl“ liest. Da beginnt eine Passage mit einem für Strauß-Leser erstaunlichen Satz: „Daß sich alles vom Schlechten zum Schlimmeren entwickle, ist die Torheit der Weisen, seit es Geschichte gibt.“

Wer den „Bocksgesang“ noch in den Ohren hat, in dem Strauß behauptet hatte, unsere alles zerredende Talk-Show-Kultur sei unmenschlicher als ein wirklicher, blutiger Bürgerkrieg, der wird hier aufhorchen: Selbstzweifel? Revision? Alles nichts gewesen?

Und weiter: „Offenbar durchdringt dies obstinate Motiv, dies anthropologische Ressentiment mit Vorliebe den kritischsten und rationalsten Geist, sobald er altert und mehr Vergehen spürt als Werden.“ So hatten wir uns insgeheim auch die Straußschen Ausfälle erklärt: als Syndrom aus Midlife- Depression und einer Überdosis Valium. Will uns dieser Satz sagen, daß Strauß über den Berg ist? Es sieht so aus, denn weiter lesen wir über den Kulturpessimisten, der Strauß selber einmal war: „Er verweigert sich der widersinnigen, doch unbezweifelbaren Tatsache, daß auch vielen Generationen nach ihm noch immer das gleiche tiefempfundene Credo verkündet werden wird und die Geschichte mithin ihren Lauf als eine unendliche Annäherung an das Schlimmste nehmen müßte.“

Wie, tut sie es denn etwa nicht? Oder können wir das jedenfalls nicht sicher wissen? Ist es das, was Strauß uns jetzt sagen will?

Aber nein. Wir überspringen einen Satz und lesen: „Doch gibt es den mutierten Typus heute schon und wird ihn bald in Massen geben: den Ähnlichen, der ohne Erinnerung an den Beginn, ohne schmerzliche Entfernung von der Frühzeit, ohne Fallbewußtsein, ohne Erwartung einer Erlösung leben und äußerlich (!) dennoch ganz unverändert Mensch sein wird mit seinen traurigen und seinen ausgelassenen Stunden, seinen hellen und seinen dumpfen Begabungen, ganz genau so und zum Verwechseln ähnlich dem geschichtlichen Menschen ...“ – als dessen höchstwahrscheinlich letztes Exemplar wir Herrn Strauß anzusehen haben.

Selten hat einer mit solcher (wahrscheinlich leider unfreiwilligen) Komik die Versuchung des Prophetentums vorgeführt. Eben noch hast du die anderen abgewatscht und ihnen nachgewiesen, daß Impotenzängste das wahre Motiv ihrer Kulturkritik sind, da steht es schon neben dir wie ein Lenor-Gewissen und schwafelt munter von den ekelhaften Mutanten, die nach dir kommen werden.

„Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft“. Matthes & Seitz Verlag, 256 Seiten, 42 DM.