Kunst ist nicht Flucht

Gesichter der Großstadt: Mit Lothar Romain wird ein Kunsthistoriker Präsident der Hochschule der Künste. Ziele: Öffnung und Strukturreform der HdK  ■ Von Bettina Müller

„Der Traum der Moderne, Kunst und Gesellschaft als Einheit zu begreifen, ist längst nicht erledigt“, bekannte Lothar Romain 1994. Der Satz stammt aus dem Katalog „Busstops“, einem Projekt der „Kunst im öffentlichen Raum“ aus Hannover. Dort bildeten neun Bushaltestellen das Testfeld der Verknüpfung von Kunst und praktischer Lebenswelt. Ab dem 1. April 1996 wird Romain, neugewählter Präsident der Berliner Hochschule der Künste (HdK), mit dieser Institution ein potentielles Werkzeug zur Verwirklichung des Traums der Moderne anvertraut.

Die Realität als Chef einer Kunsthochschule hat Romain mit diesem Ziel abgewogen und zugleich als Herausforderung verstanden. Die HdK sei zwar gut gerüstet für eine „Kunsthochschule im 21. Jahrhundert“ aufgrund der „Kombination“ von angewandter und freier Kunst mit Erziehung und den theoretischen Fächern Visuelle Kommunikation, Wirtschaftskommunikation und Kunstgeschichte, sagt er. Dieses im Bereich deutscher Kunsthochschulen „einzigartige Modell ist geeignet, gesellschaftliche Fragen an die Kunst heranzutragen“.

Dennoch soll eine HdK 2000 noch offener, synergetischer, praxisnaher arbeiten. Es komme darauf an, auf fachübergreifende Diskussionen zu setzen, um eine Hochschulgeschichte zu überwinden, die sich in Spartendenken und internen Konkurrenzen niederschlägt, denkt Romain nach vorn. „Die Struktur der Hochschule atmet noch den Geist der verschiedenen Institutionen Musik, darstellende und bildende Kunst, aus denen sie aufgrund einer politischen Vorgabe 1975 zusammengeschweißt wurde.“ Für die Zukunft sollte der Dialog zwischen Kunst- und Musikerziehern für eine Strategie angeregt werden, wie man sich gegen das Austrocknen der musischen Fächer an den Schulen wehren kann.

Nach den Politikern Ulrich Roloff-Momin und Olaf Schwencke wird mit Lothar Romain, der seit 1992 Kunstgeschichte in München lehrt, erstmals ein Kunsthistoriker Präsident der HdK. Das Ziel einer Auseinandersetzung der Künstler mit der gesellschaftlichen Bedingtheit ihrer Produktion peilte er, auch zwischen 1973 und 1976 als Referent beim Bundesvorstand der SPD in kultur- und medienpolitischen Gefilden, schon lange an. „Kunst als Flucht – Flucht als Kunst“ hieß ein 1971 erschienenes Buch, in dem sich Romain der Entlarvung von künstlerischen Scheinutopien widmete. Da ging es den Informellen ebenso an den Kragen wie der Pop-art und Aktionisten der sechziger Jahre. Von diesem ideologiekritischen Ansatz ist er zu Modellen der Transformation des Alltags fortgeschritten. Romain, heute auf Distanz zur SPD-Kulturpolitik, schrieb über Beuys und Boltanski, arbeitete als Redakteur beim Vorwärts und beim WDR und stellte 1986 „Positionen“ westdeutscher Kunst für eine Reise in die DDR zusammen. Noch immer von der Sehnsucht getragen, „durch Kunst der Lebenswelt nicht nur symbolische, sondern auch praktische Ereignisfelder zu schaffen“, rückte er zum Leiter des Projektes „Kunst im öffentlichen Raum“ 1990/1994 in Hannover auf, auf das die Berliner Kunstszene neidvoll schielte.

Der künftige Präsident hat sich dergestalt einen unbefangenen Umgang mit der „Kunst als Dienstleistung“ angeeignet. „Wenn ich mir vorstelle, daß die Wirtschaft seit zwanzig Jahren über Spieltheorien nachdenkt, um freie Formen der Zusammenarbeit zu finden, dann stelle ich fest, daß für Fragen des Spiels die Hochschule schon lange über Kompetenz verfügt“, skizziert er ein potentielles Angebot der HdK. Und angesprochen auf die der Hochschule verordnete Sparpolitik, die seinen Vorgänger vielen als Sparkommissar erscheinen ließ, betont Romain, mit den Fachbereichen erst über Inhalte statt über Stellen nachdenken zu wollen. Er setzt auf eine „strukturelle Reform“, um die Einsparung von Fachbereichen zu umgehen.