Heilige und Spießer

Das deutsche Syndrom: Wie kommt es, daß immer noch Bockigkeit und Arroganz regieren, wo Ost- und Westdeutsche übereinander reden?  ■ Von Dieter Thomä

Es gibt Zeiten, da kommt alles nicht nur schneller, als man denkt, sondern auch noch zusammen. Für das eine – daß heutzutage alles so schnell geht – hat ein Schnelldeuter der Moderne, der Franzose Paul Virilio, die „Wissenschaft von der Geschwindigkeit“ erfunden, die „Dromologie“. Man sollte freilich die moderne Welt nicht nur als technisches Experimentierfeld nehmen, sondern auch als sozialen Tummelplatz. Wichtig ist nicht nur, wie schnell es geht, sondern auch, wer oder was dabei zusammenkommt.

Hält man sich ausnahmsweise an das Griechische, hat man es leicht: Aus Dromos, das heißt dem „eiligen Lauf“, wird dann ein „Zusammenlauf“, eine „Anhäufung“, ein Syndrom. So wird auch klar, worum es sich bei der deutschen Wiedervereinigung handelt: nicht um eine Synthese, in der alles sich zum Ganzen fügt, nicht um eine Symbiose, in der alles auflebt, sondern um ein Syndrom. Ein solches Syndrom läßt Technokraten ratlos, aber auch die Demokraten, die meinen, nun, da alle Deutschen frei entscheiden könnten, seien der Verständigung keine Grenzen gesetzt.

Was vor fünf Jahren schnell zusammenkam, ist bis heute unfertig, unübersichtlich, unordentlich; auf seine Erkundung paßt ein unschönes Wort: die Syndromologie. Das Wort mag man vergessen, es lohnt aber, sich an die Idee zu halten. Dann muß man die Aufmerksamkeit richten auf die Mißverständnisse, die zwischen Ost- und Westdeutschen bestehen. Zwei von ihnen sind besonders wirkungsvoll: das Schuldsyndrom und das Fortschrittssyndrom.

1. Das deutsche Schuldsyndrom

Der heimliche Verdacht der Westdeutschen lautet, daß ihre neuen Mitbürger vielleicht irgendwann einen kleinen Kompromiß mit dem „System“ eingegangen sein könnten, daß es dunkle oder zumindest graue Flecken in den meisten DDR-Lebensläufen gebe. Leben im Osten war auch bei aufrechten Menschen manchmal ein Lavieren. In einer besonders raffinierten Form von Großzügigkeit meinen die Westdeutschen vielleicht sogar, dieses Lavieren wollten sie ihren neuen Mitbürgern gar nicht übelnehmen. Tückisch an dieser Entschuldigung ist freilich, daß sie erst mal festschreibt, ein Verschulden liege vor.

Früher sagte man hinter vorgehaltener Hand über die Nachbarin, sie sei eine „Frau mit Vergangenheit“, und das hieß: Sie stand im Verdacht, zur Unzeit ihre Unschuld verloren zu haben. Nach 1989 scheint es so, als seien die Ostdeutschen ein „Volk mit Vergangenheit“, Menschen also, die vor der rechtmäßigen Vereinigung einen Fehltritt begangen haben.

Wie kann es – ganz allgemein – verwerflich erscheinen, daß jemand, sei es ein Volk oder eine Frau, eine Vergangenheit hat? Wie aber soll es sich überhaupt verhindern lassen, „mit Vergangenheit“ zu leben? Ein Ausweg wäre immerhin denkbar: Unverdächtig wäre vielleicht derjenige, der auch früher sowieso nur das war, was er heute ist; er hätte einfach keine eigens abgegrenzte Vergangenheit, in die sich etwas Unsittliches hineingeheimnissen ließe. Glimpflich käme vielleicht auch noch derjenige davon, dessen Vergangenheit sich als zielstrebige Vorbereitung der Gegenwart vereinnahmen ließe; dessen Lebenslauf wäre nur ein Vorlauf zum Status quo.

Wer kann solch ein Leben „ohne Vergangenheit“ führen? Eigentlich nur zwei: der Spießer und der Heilige. Der Spießer bleibt sich behäbig gleich, er ist das, was er war, wird sein, was er ist, und tut so, als hätte er nichts zu verbergen – keine Leiche im Keller, keinen Abgrund in der Seele. Der Heilige bleibt unbeirrbar seiner Bestimmung treu, die ihm gegeben ist von dem, der war, ist und sein wird. Dem Heiligen wie dem Spießer sind also die Wechselfälle fremd, die die menschlichen Lebensläufe sonst zu Windungen zwingen; nur jene beiden können sich in der Lage fühlen, auf diejenigen, die um die Vergangenheit nicht herumkommen, herabzublicken – der Heilige gütig, der Spießer gehässig.

Die Westdeutschen, die zum Volk „mit Vergangenheit“ hinüberschielen, scheinen also vor der Wahl zu stehen, Heilige zu sein oder Spießer. Die Qual der Wahl aber bleibt ihnen erspart. Sie sind nämlich beides zugleich.

Im Schuldsyndrom zwischen Ost und West sind die moralischen Fronten sauber sortiert. Den Ostdeutschen als Volk „mit Vergangenheit“ stehen die Westdeutschen gegenüber, die selbst mangels Gelegenheit zur Kollaboration unschuldig erscheinen. Genau dieser Schein aber trügt. Sie sind nicht unschuldig, sie befinden sich vielmehr jenseits von Gut und Böse, jenseits von Schuld und Unschuld: Es war ihnen verwehrt, sich (erneut oder erstmals) in einem repressiven System moralisch zu bewähren, ebenso wie es ihnen verwehrt war, moralisch zu versagen. Wer aber jenseits von Schuld und Unschuld steht, ist bekanntlich ein Heiliger – in diesem Fall handelt es sich freilich um dessen Abart, nämlich den Scheinheiligen.

Der scheinheilige Westdeutsche entpuppt sich zugleich als Spießer. Der Spießer begnügt sich gern mit dem Befund, daß die anderen anders sind als er selbst – und sich in die anderen („Fremden“) hineinzuversetzen käme aus seiner Sicht einer Selbstgefährdung gleich. So dient ihm die historische Kluft zwischen Ost und West dazu, moralisch Abstand zuhalten und sich vor der Frage zu drücken, wie er selbst sich in einer vergleichbaren Situation verhalten hätte.

Daß nach dem Zusammenbruch der DDR nicht eine interne Debatte der Schuldigen und Unschuldigen im Osten selbst geführt werden konnte, sondern sogleich 60 Millionen scheinbar Unschuldiger einbezogen waren, hat zu einer fatalen Asymmetrie geführt. Wer sich auf die Fragilität seiner Ost- Biographie berief, geriet sogleich in den Verdacht, er wolle Ausreden für moralische Schwächen mobilisieren; dabei steckt hinter der Berufung auf die Biographie kein Versuch, mildernde Umstände für ein Vergehen zu erwirken, das nach äußeren Maßstäben schon zu beurteilen wäre, sondern der Versuch, gerade erst Maßstäbe dafür zu entwickeln, wie man es mit dem eigenen Leben halten sollte.

Das Wort von der „Siegerjustiz“ ist, bezogen auf das Schuldsyndrom zwischen Ost und West, aus mehreren Gründen unsinnig – unter anderem deshalb, weil die Westdeutschen dieses Kompliment nicht verdient haben: Die Urteile, die im Namen der Alliierten in den Nürnberger Prozesse gesprochen wurden, kamen von Menschen, die unter schwersten Opfern einen moralischen Sieg errungen hatten. Nach dem jedenfalls in Deutschland unblutigen Ende des Kalten Krieges kann von solchem Siegertum bei den Westdeutschen keine Rede sein.

So müßte es auch den Ostdeutschen vorbehalten bleiben, über ihren Umgang mit der Vergangenheit selbst zu befinden – und in der Tat war ja der Beschluß eines Gesetzes über den Umgang mit den Stasi-Unterlagen eine der letzten Amtshandlungen der Volkskammer im August 1990. Dennoch wird heute die Debatte von jener Asymmetrie, von jener Mehrheit scheinbar unschuldiger Westdeutscher beherrscht, und dies hat Folgen für das Rollenspiel, das zum Schuldsyndrom gehört.

Stecken die Westdeutschen in der Doppelrolle als spießige Heilige, so scheinen den Ostdeutschen nur die Rollen des Außenseiters oder des Sünders zu bleiben. Sie können sich freilich auch in der Identifikation mit dem Angreifer üben: Als Spießer können sie sich versuchen oder als Heilige, freilich aufgrund des historischen Bruchs in ihrem Leben nicht in beiden Rollen zugleich. Die Ostdeutschen können beharren oder bereuen, sich trotzig behaupten oder demütig reinwaschen, Dickkopf spielen oder Wendehals. Dem verbockten Verharren auf östlichen Eigentümlichkeiten steht der eilige Versuch gegenüber, es der scheinheiligen Unschuld des Westens gleichzutun.

So oder so soll der Verdacht zerstreut werden, daß man einem Volk „mit Vergangenheit“ angehört. Der eine tritt die Flucht nach hinten an: Er gibt die Vergangenheit flugs als Gegenwart aus und hält das, woran er gewöhnt war, auch gleich noch für gut. Das ist der (alte) Spießer. Der andere tritt die Flucht nach vorn an: Für ihn gibt es keine nennenswerte Vergangenheit mehr, die etwas mit ihm zu tun hätte, er beginnt ein neues Leben und datiert sein Erweckungserlebnis auf den Mauerfall. Das ist der (neue) Heilige. Für beide war übrigens die DDR kein schlechter Übungsplatz. Die Unbeirrbarkeit, mit der man sich seinerzeit im Besitz der Wahrheit wähnte, ist tauglich für Heiligkeit, die Beharrlichkeit, mit der man diese Wahrheit als Sättigungsbeilage servierte, für Spießigkeit.

Der Pauschalverdacht, der aus dem Westen kommt, dient am Ende nicht dazu, die Schuld auf der Ostseite festzuschreiben – im Gegenteil: Er bringt sie zum Verschwinden: Wenn alle klammheimlich unter Verdacht gestellt sind, bleibt die individuelle Rechenschaft aus, ohne die es doch keine Schuld und keine Moral gibt. Erst wenn der Pauschalverdacht zurückgezogen ist, werden Beschuldigungen glaubwürdig. Erst wenn die Abfälligkeit des Westens verschwindet, können die Ostdeutschen rücksichtslos zu sich selbst sein, ohne dies selbstzerstörerisch zu finden.

2. Das deutsche Fortschrittssyndrom

Ernst Bloch hat gesagt: „Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.“ Blochs Idee, die Widersprüche einer Gesellschaft als „Ungleichzeitigkeit“ zu verstehen, hat – so scheint es – selten so gut gepaßt wie heute auf die Situation im neuen Deutschland.

Daß Ostdeutsche nicht nur andernorts, sondern auch in einer anderen Zeit leben – dafür meinen die Westdeutschen viele Indizien zu finden. Sie sagen zum Beispiel: „Schau mal, die Allee – so sah es auch bei uns zu Hause aus, als ich klein war. Aber dann haben sie alles abgeholzt wegen der Unfälle.“ Oder: „Hier stinkt's nach Braunkohle. Wie bei uns früher! In meiner ersten Studentenbude stand auch noch ein Kachelofen.“ Oder: „An dem Haus dort sieht man noch die Einschüsse vom Krieg. Da ist seit fünfzig Jahren nichts passiert.“ Fahren Westler in den Osten, machen sie sich auf, das Land ihrer Kindheit mit der Seele zu suchen.

Daß Westdeutsche nicht nur andernorts, sondern auch in einer anderen Zeit leben – dafür haben auch Ostdeutsche beim Gegenbesuch viele Indizien. Sie sagen zum Beispiel: „Schau mal, da ist so ein irres Schwimmbad, ein Schwimmparadies. Auf Rügen ist jetzt auch eins geplant.“ Oder sie sagen: „Hier ist ja wirklich noch der letzte Feldweg asphaltiert.“ Oder sie sagen: „Ob ich den Tag wohl noch erlebe, an dem unsere Kirche so schön renoviert wird wie diese hier?“ Fahren Ostler in den Westen, hat für sie die Zukunft schon begonnen.

Fast sieht es so aus, als könnte die Zeit die Wunden des Ost- West-Gegensatzes vernähen: Der Osten wird – vom Westen her gesehen – zur Vergangenheit, der Westen – vom Osten her gesehen – zur Zukunft. Deutschland ist wieder eins, nur ist es nicht überall zur selben Zeit. Diese „Ungleichzeitigkeit“, diese zeitliche Deutung der Differenz zwischen Ost und West ist aber tückisch. Auf der einen Seite heißt es dann vom Osten, daß man dort noch nicht so weit ist. Auf der anderen Seite erhält der Westen ein Monopol auf die Zukunft: Zurückgebliebenheit und Zukunftsträchtigkeit sind säuberlich zugeordnet. Als Grundmuster im deutsch-deutschen Rollenspiel dient sich eine verstaubte geschichtsphilosophische Idee an: die schlichte Zweiteilung in Rückständiges und Fortschrittliches, Nostalgie und Dynamik, verkörpert durch Noch-nicht-so-weit-Deutsche und Schon-so-weit-Deutsche. Das Deutschlandsyndrom wird zum Generationenkonflikt.

Es ist schnell dahingesagt, daß im Osten unter dem Regime eines vergreisten Politbüros vieles „veraltet“ gewesen sei. Aus der Sicht des Westens hat sich dort aber alles verjüngt, haben die sozialistischen Greise postsozialistische Kinder zurückgelassen. Die Rechnung, die zu diesem Ergebnis führt, ist ganz einfach: Wenn die neuen Länder auf dem Stand sind, den die Bundesrepublik vor langer Zeit hatte, dann heißt dies: Sie sind in der Entwicklung zurück, sie werden vielleicht erst 20 Jahre später so sein, wie der Westen heute schon ist, sind also 20 Jahre jünger.

So besteht auch der trügerische Trost, der aus dem Westen kommt, darin, die Ostdeutschen in eine kollektive Adoleszenzphase zu versetzen. Die Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben, werden (v)erklärt als Wachstumsprobleme, also als Schwierigkeiten, erwachsen zu werden. Auf der Seite des „jungen“ Ostens sind die Handlungsmuster dann gleichfalls simpel: Die einen werden bockig, die anderen eifern nach, was der erwachsene Westen vorlebt, oder wollen nun gar endgültig eine alte Parole verwirklichen: „Überholen, ohne einzuholen.“

Solange zwischen West und Ost eine Umgangsweise gepflegt wird, die dem Umgang zwischen Volljährigen und Halbwüchsigen, Reifen und Unreifen ähnelt, bleiben Zweifel, ob die Deutschen in Gleichheit geeint sind.

Vielleicht sollte man sich an Goethe halten: „Guter Gott von Deinem Himmel, alte Kinder siehst Du und junge Kinder, und nichts weiter.“