Ein nicht erklärbares Phänomen

Junkies leben mit HIV länger als homosexuelle Männer – und keiner weiß warum  ■ Von Manfred Kriener

Das Ergebnis einer neuen Aids- Studie wirft medizinische Gewißheiten wie landläufige Vorurteile gleichermaßen über den Haufen. Der Vergleich von HIV-infizierten Junkies mit schwulen Männern zeigt eindrucksvoll: Die Drogengebraucher haben keinesfalls schlechtere Karten, was Krankheitsverlauf und Überlebenszeiten betrifft. Im Gegenteil: Drogenabhängige, die Methadon bekommen, leben sogar deutlich länger mit der Immunschwächekrankheit als Homosexuelle. Und selbst Junkies, die auf der Szene weiter Heroin spritzen, erreichen dieselben Überlebensraten wie Homosexuelle mit ihrer HIV-Infektion. Ärzte und Wissenschaftler stehen vor einem „nicht erklärbaren“ Phänomen, so die Berliner Internistin Renate Baumgarten, die gemeinsam mit dem Münchner Aids-Spezialisten Johannes Bogner die Studie leitete.

Drogenabhängige sind, was die medizinische Forschung angeht, nicht gerade das Lieblingsobjekt von Ärzten und Wissenschaftlern. Eine längere Beobachtung mit regelmäßigen Untersuchungs- und Interview-Terminen ist schwer zu organisieren. Andererseits war aber auch das gesellschaftliche Interesse an den Gesundheitsproblemen der Junkies bisher kaum vorhanden. Bei Aids ist das anders. In der Bundesrepublik sind bisher 1.961 Aidsfälle von Junkies registriert. Damit sind sie nach den Schwulen die zweitgrößte Gruppe in der amtlichen Fallstatistik. Jede zweite aidskranke Frau und jeder zehnte aidskranke Mann kommt aus der Drogenszene. Weil über infizierte Drogenabhängige ein Einsickern des Virus in die „normale“ heterosexuelle Gesellschaft befürchtet wurde, schenkte man dieser Gruppe stets besondere Aufmerksamkeit.

Eine breit angelegte Studie, die diesen Monat veröffentlicht wird, hat jetzt die Daten von insgesamt 1.554 HIV-infizierten Drogengebrauchern an 20 klinischen Zentren in der Bundesrepublik ausgewertet. Der Krankheitsverlauf sollte mit und ohne Methadongaben beobachtet und verglichen werden. Zugleich wurde die Kohorte einer Gruppe von 632 Homosexuellen gegenübergestellt.

Das Ergebnis verblüfft, stimmt aber mit ähnlichen Resultaten aus den USA überein. Nach einem Beobachtungszeitraum von acht Jahren lebten noch knapp 50 Prozent der Homosexuellen mit ihrer HIV- Infektion. Bei den Drogengebrauchern, die Methadon erhielten, waren dagegen noch 70 Prozent am Leben. Unter den Drogengebrauchern ohne Methadon, die weiter auf den Stoff aus der Szene angewiesen waren, lebten ebenfalls noch rund 50 Prozent.

Die Zahlen belegen zunächst die erfreuliche Wirkung des Methadons. Entgegen allen in der Medizinliteratur geäußerten Verdachtsmomenten, daß der Ersatzstoff die Immunlage verschlechtern könnte, zeigt sich hier genau das Gegenteil: „Methadon wirkt auf keinen Fall immunschädigend“, so Aidsspezialistin Baumgarten, „wir haben eine signifikante Erhöhung der Überlebenszeit.“ Die höhere Überlebensrate der Methadon-Substituierten gegenüber den Heroin-Usern erklärt die Ärztin vor allem mit sozialen Einflüssen: „Wer nicht mehr im Beschaffungszwang drinsteckt, hat sehr viel gesündere Lebensverhältnisse.“ Dazu gehören eine regelmäßige ärztliche Kontrolle, eine bessere Ernährung und vor allem weniger Streß. Der tägliche Kampf um den nächsten Schuß ist abgeblasen. Auch die Gefahr, an schlechten, stark gestreckten oder plötzlich an konzentrierten Stoff zu gelangen, ist vorbei. Gesundheitspolitisch sind die Ergebnisse der Studie ein eindrucksvolles Plädoyer für die noch immer umstrittenen Methadon-Programme.

Auch die Drogenreferentin der Deutschen Aidshilfe, Gundula Barsch, sieht einen positiven Einfluß der Substitution. Das Methadon „bringt auf allen Ebenen eine Stabilisierung der Betroffenen, die erst mal Ruhe in ihr Leben kriegen“. Für HIV-Infizierte erweise sich der Heroinersatz darüber hinaus „als besonders protektiv“.

Während die Unterschiede zwischen der Methadon- und Heroin- Gruppe gut erklärbar sind, bleibt ein anderes Ergebnis rätselhaft: Warum ist der Krankheitsverlauf der Drogenabhängigen im Vergleich zu den Homosexuellen nicht schwerer, sondern insgesamt besser – bei längeren Überlebenszeiten und einer langsameren Progression zum Aids-Vollbild? Warum haben selbst Heroinfixer, die über viele Jahre einer zerstörerischen Sucht mit allen gesundheitsschädigenden Faktoren ausgesetzt waren, einen sanfteren Krankheitsverlauf als viele Homosexuelle? Im Vergleich mit Drogenabhängigen leben schwule Männer in einem weit gesünderen Ambiente. Sie besitzen in der Regel ein intakteres soziales Umfeld, haben eine bessere Ernährung und ärztliche Versorgung, leben unter hygienischeren Verhältnissen, haben weniger Infektionen. Nach allen medizinischen Regeln müßten sie davon gesundheitlich profitieren. Dagegen fallen Drogenabhängige oft von einer Katastrophe in die nächste. Sie stehen unter Beschaffungsdruck und Dauerstreß, viele haben Hepatitiserkrankungen hinter sich, nicht wenige waren im Knast – alles höchst ungesunde Kofaktoren, die den Krankheitsverlauf eigentlich beschleunigen sollten. „Wie kann der menschliche Organismus diese Strapazen des Lebens so gut ertragen?“ fragt sich auch Studienleiterin Baumgarten angesichts der Überlebenskurven ihrer Kohorte.

Bislang gibt es für die ungewöhnlichen Befunde keine plausible These. Spielt der unterschiedliche Übertragungsweg von HIV eine Rolle? Ist ein eher schlechtes Immunsystem vielleicht doch günstiger für den Krankheitsverlauf? Viele Fragen, wenig Antworten. Gundula Barsch wirft noch eine weitere, zusätzlich brisante Frage auf: Sind die Ergebnisse der Studie nicht ein ernstzunehmender Hinweis darauf, daß Opiate „vielleicht doch ein Heilmittel sind“? Können sie dann vielleicht auch den Verlauf einer HIV-Infektion günstig beeinflussen?

Das klinische Bild zeigt eine Reihe von Unterschieden zwischen Drogenabhängigen und Homosexuellen. Bei den Junkies wurden sehr viel mehr Tuberkulosen beobachtet. Auch Pilzerkrankungen, Sepsis, Hirnabszesse und Herzbeutelentzündungen traten signifikant häufiger auf. Aidstypische, sogenannte opportunistische Infektionen mit dem Zytomegalie- Virus oder mit Mykobakterien waren dagegen sehr viel seltener. Auch der Hautkrebs (Kaposi-Sarkom) und die bei Aids häufige, durch Pneumocystis carinii ausgelöste Lungenentzündung wurde längst nicht so oft diagnostiziert wie in der Gruppe der Homosexuellen.

Kaum Unterschiede zwischen beiden Gruppen wurden dagegen beim Verlust der CD-4-Helferzellen des Immunsystems festgestellt. Er lag in beiden Gruppen bei rund 60 Zellen je Milliliter. Auch das Methadon konnte den Abbau der Helferzellen nicht bremsen.