86 Meter Wandmaoismus

22 Jahre nach der „Nelkenrevolution“: Die Parolen an den Wänden sind blaß geworden. Bloß die „Bewegung zur Reorganisation der Partei des Proletariats“ arbeitet noch am größten politischen Wandbild Europas  ■ Von Theo Pischke

Mit nachts rasch an Hauswände und Mauern gepinselten Parolen fing es an: gegen den Kolonialkrieg in Afrika und die Diktatur im eigenen Land. Die Aktivisten gegen den Krieg Portugals in seinen afrikanischen Kolonien, Demokraten und linke Studenten – sie alle nutzten die Wandparolen während der faschistischen Salazar-Herrschaft als einzige Form des Protests und schnelles Kommunikationsmittel. Als mit der „Nelkenrevolution“ die Diktatur am 25. April 1974 zu Ende ging, blühte die Wandmalerei als Symbol des erfolgreichen Kampfes erst richtig auf.

„Ein politisches Pfingstfest“ sei die „Nelkenrevolution“ gewesen, schreibt Hans Magnus Enzensberger. Enzensberger reiste damals an den Ort des Geschehens, nach Lissabon. „Was das Tollste war“, erinnert er sich in seinen „Portugiesischen Grübeleien“: „die Mauern der Millionenstadt füllten sich über Nacht mit farbigen Zeichen und Bildern [...], das Testbild einer besseren Welt.“

Diese Zeichen sind mit der Zeit und dem Regen verschwunden. Geblieben, immer wieder hartnäckig erneuert, sind die Propaganda- Utopien kommunistischer Splitterparteien. Ihre Wandmalereien erinnern an den sozialistischen Realismus der Sowjetunion und Agitprop aus dem maoistischen China. Die vorherrschenden Farben sind Rot und Gelb, die Gestalten heroisch und die Botschaft stramm: „Nur die Arbeiter können die Krise besiegen“, oder, noch einfacher: „Nieder mit der Regierung Silva“.

Anibal Cavaco Silva war zehn Jahre lang portugiesischer Ministerpräsident, und auf dem Weg ins Büro fuhr er jeden Morgen an der Beschwörung seines Niedergangs vorbei. Neben dem Aufruf zu seinem Sturz blicken heldenhafte Arbeitergestalten von der Wand, umweht von roten Fahnen und Transparenten. Diese marxistische Mauerikone ist sicher so alt wie Cavacos Amtszeit, und sie bröckelt allmählich weg – doch ebenso Cavaco. Seine Partei verlor im Oktober die Parlamentswahl. Für die Lissabonner Stadtverwaltung zählt indes die Politmalerei zum städtischen Kulturerbe. „Wir fördern diese Art von Kunst“, sagt der Chef des Kulturamtes, Tomás Vasques. So veröffentlichte das Kulturamt eine Liste von Mauern, Hauswänden und anderen Freiflächen, die der Stadt gehören und die zur Bemalung frei sind. Politmalerei auf privaten Mauern, die dort oft jahrelang prangte, ohne Anstoß zu erregen, wird allerdings zusehends von den Mauerbesitzern überstrichen. „Lebt wohl, Wandmalereien“, überschrieb die Lissabonner Tageszeitung Público fast wehmütig einen Artikel über das Einfarbigwerden vieler Mauern in der portugiesischen Hauptstadt. Die Parteien gehen längst mit anderen Mitteln auf Wählerfang.

Eifrig und radikal beim Malen ist nur noch die maoistische Splittergruppe „Bewegung zur Reorganisation der Partei des Proletariats“. Ihr Kürzel MRPP interpretieren Spötter mit dem Satz „Meninos Rabinos que Pintam Paredes“ („Freche Jungens, die Wände anmalen“). Ihr jüngstes Werk in der Nähe des S-Bahnhfos AlcÛntara ist 86 Meter lang. „Die größte politische Wandmalerei Europas“, sagt MRPP-Mann António Alves dazu. Sie besteht aus elf verschiedenen Szenen, historischen und aktuellen.

Historisch ist etwa die Szene aus der Zeit der Landbesetzungen in Portugals Armutsprovinz Alentejo in der nachrevolutionären Zeit 1975/76: Bauern mit Sensen und Jagdgewehren fordern: „Das Land dem, der es bearbeitet“. Aktuell ist die Szene, die im Europa der Fischfangquoten „Gegen die Zerstörung der nationalen Fischereiflotte“ protestiert: Rote Fahnen wehen, heroische Menschen rennen vorwärts. Zwei S-Bahnstationen weiter, mitten im Stadtzentrum, ein weiteres Mauergemälde: Demonstrationen, die gegen „deutschen Imperialismus“ in Europa protestieren und den „Internationalismus“ hochleben lassen. Um das mehr als mannshohe Mauerbild zu malen, waren mehrere Maoisten und Maoistinnen einen ganzen Tag lang beschäftigt, so MRPP-Mauermaler José Luis Seixas. Andere verteilten unterdessen Flugblätter und diskutierten mit Passanten. Eine wahrhaftige Agitprop-Angelegenheit – fürs Guinnessbuch der Rekorde.

Unterdessen macht sich die von einer Koalition aus Sozialisten und Kommunisten regierte Stadt Lissabon ernsthaft Sorgen um den Verlust der bunten Fassaden. Bürgermeister João Soares hat deshalb angeregt, den in Paris lebenden portugiesischen Graffiti-Künstler André zu engagieren. Der soll auf seine Art Farbe in die Stadt bringen. Nemo, ein anderer Graffitist aus Frankreich, hat sich im vergangenen Sommer bereits auf eigene Faust über die Lissaboner Wände hergemacht. Er pinselte mit Vorliebe Männer mit Koffern. Doch seine Bilder sind nicht bunt, sondern schwarz. Und ihre Botschaft bleibt im dunkeln.