■ Der Schriftsteller Peter Handke fordert „Gerechtigkeit für Serbien“, kultiviert aber nur Klischees und Vorurteile
: Einsamer Sucher nach der Wahrheit

Der Titel ist Programm. „Gerechtigkeit für Serbien“ hat Peter Handke sein 85 Seiten dickes Manuskript überschrieben, das die Süddeutsche Zeitung in den Beilagen der beiden vergangenen Wochenenden ihrer Leserschaft „wegen der literarisch-politischen Bedeutung [...] ungekürzt zugänglich“ gemacht hat. Handkes Bericht sei geeignet, meint das Blatt, „Diskussionen auszulösen, Diskussionen, in denen es auch um Änderungen unserer Einstellung zur Flut der Beschreibungen gehen könnte und gehen sollte, die uns in den letzten Jahren überschwemmt hat“.

Große Worte. Handke ist schließlich nicht irgendwer. Und schon allein deshalb wird der Beitrag Diskussionen auslösen. Nur deshalb. Handkes neuestes ×uvre besteht, um es vorwegzunehmen, aus einer schönen Reportage über Land und Leute in Serbien, die keine Diskussionen auslösen wird, und aus einem polemischen Vorwort, das überhaupt keine neuen Erkenntnisse bietet, sondern nur Vermutungen und Verdächtigungen, Schmäh und Schimpfe, und schon allein deshalb Diskussionen auslösen wird.

Peter Handke will also Serbien Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn: „Allzuschnell nämlich waren [...] auch in diesem Krieg die Rollen des Angreifers und des Angegriffenen, der reinen Opfer und der nackten Bösewichter, festgelegt und fixgeschrieben worden.“ Ungerecht behandelt wurde Serbien seiner Meinung nach von Kroatien, das aus dem serbisch dominierten jugoslawischen Staatsverband austrat, und vor allem von den Journalisten, die die Serben als brutale Horde nationalistischer Schnapsnasen und Inbegriff des Bösen schlechthin dämonisiert hätten. Daß auch die großserbischen Ideologen seit Jahren Serbien als Opfer einer Verschwörung Kroatiens (unterstützt von Deutschland und vom Vatikan) und der gemeinhin manipulierten Medienöffentlichkeit darstellen und dies geschickt mit Versatzstücken serbischer Mythen verweben, darf uns nicht zum Fehlschluß verleiten, Handke betreibe hier schlicht serbische Propaganda. Nichts in seinem langen Text deutet darauf hin, daß er sich mit den leider so wirksamen Mythen der Serben überhaupt je befaßt hat.

Und doch sind die serbische Befindlichkeit und auch der oft zur Gewißheit geronnene Verdacht, nur immer Opfer der Geschichte gewesen zu sein, ohne diese Mythen nicht zu erklären – angefangen vom Mythos von der historischen Schlacht auf dem Amselfeld, bei der die Türken vor über 600 Jahren die Serben vernichtend schlugen, was aber von diesen in einen Sieg umgedeutet wurde; bis zu der These, die Serben hätten noch in jedem Frieden verloren, was sie im Krieg gewonnen hätten. Das Abkommen von Dayton wird diesen Mythos erneut bestätigen.

66 Fragezeichen stehen in der umfassenden Einleitung zur Reportage. Sympathisch, möchte man meinen, zumal in einer Zeit, in der die Antworten oft vor den Fragen kommen. Aber Handke stellt Fragen, die Antworten implizieren – die aber gibt er nicht. Es ist die klassische Art der Insinuation. Er hat ja nichts behauptet, nur gefragt und bleibt deshalb auch keinen Beweis schuldig. Und doch liegt da unausgesprochen, aber zwischen allen Zeilen zu spüren die Grundthese, die den Titel rechtfertigt: Das serbische Regime ist an diesem Krieg nicht mehr schuld als andere auch, und daß die Öffentlichkeit dies nicht merkt, ist die Schuld der Journalisten.

Nun wissen wir zwar spätestens seit dem desert storm der westlichen Allianz gegen den irakischen Diktator, daß die Wahrheit oft das erste Opfer des Krieges ist. Und wir wissen spätestens seit der Filmaufnahme vom ölverklebten Kormoran, daß auch mit Bildern Krieg gemacht wird. Und in der Tat gibt es auch in der Berichterstattung über den Krieg auf dem Balkan eine Journaille, die schwarzweißpinselt, die Fakten unterschlägt und geifert. Aber es gab in den letzten Jahrzehnten andererseits keinen Krieg, über den so umfassend berichtet und über den in den Medien so viel debattiert wurde.

„Beinahe alle Bilder und Berichte kamen ja von der einen Seite der Fronten und Grenzen“, behauptet Handke, und deshalb, so verkündet er mit dem Gestus dessen, der vorurteilsfrei ist und nur vom Gedanken der Gerechtigkeit getrieben wird, sei er nach Serbien gegangen. Diese Reise gibt dann den Stoff der Reportage ab, die ausgesprochen schön ist, bloß mit dem Krieg so gut wie nichts zu tun hat; denn in Serbien herrscht Frieden, der Krieg wurde immer außerhalb seiner Grenzen, in Kroatien und Bosnien, geführt. Die andere Seite der Front, das spürt Handke vor Ort, liegt nicht in Serbien. Sie liegt irgendwo auf der anderen, auf der bosnischen Seite der Drina. Doch an der Grenze geht es ihm so wie manchem Journalisten vor ihm. Der bosnisch-serbische Grenzer läßt ihn nicht herein. Der Gedanke, daß drei Jahre lang kein Journalist Goražde gesehen hat, daß auch Srebrenica für Journalisten gesperrt ist, daß nur wenige nach Banja Luka durchgekommen sind, weil die serbische Seite anders als die belagerte Regierung in Sarajevo aus einsichtigen Gründen keine Öffentlichkeit wollte und will, kommt Handke offenbar nicht. Er hätte, kann man vermuten, seine Arbeitshypothese zu stark beschädigt.

Und die heißt ganz offensichtlich: Die serbischen Machthaber sind nicht die Hauptschuldigen in diesem Krieg. Belege für diese – nach all dem, was inzwischen dokumentiert ist – doch erstaunliche Hypothese bringt Handke keine. Statt dessen: Gerechtigkeit für Serbien, bitte. Es ist hier nicht der Raum, die Kriegsschuldfrage zu erörtern. Es sei nur daran erinnert, daß nicht kroatische Truppen in Serbien eingefallen sind, sondern serbische Freischärler mit Unterstützung der serbisch dominierten jugoslawischen Armee in Kroatien. Es sei daran erinnert, daß im serbisch kontrollierten Teil Bosniens Hunderte von Moscheen geschleift wurden, während in Sarajevo neben zahlreichen Moscheen die Kirchen, die orthodoxen wie die katholischen, und Synagogen noch stehen.

Doch den einsamen Sucher nach der von den „Weltmedienverbänden“ verdrehten Wahrheit kümmern die Tatsachen wenig. Er hält ihnen einfach seine Vermutungen entgegen. Seine Ausführungen, so verkauft die Süddeutsche Zeitung uns den Text, „befreien von eingefahrenen Denkmustern“. Es sind die Denkmuster einer gigantischen Verschwörungstheorie, die uns gerade linke Blätter wie konkret und junge Welt seit Jahren anbieten, wenn es um das Begreifen der größten Tragödie der europäischen Nachkriegszeit geht. Thomas Schmid