Mit seiner ganzen militärischen Übermacht hat Rußland versucht, das Geiseldrama von Dagestan auf seine Weise zu "lösen". Trotz tagelanger Verhandlungen: Die Zuspitzung des Konflikts mit den tschetschenischen Rebellen war eiskalt kalkuliert.

Mit seiner ganzen militärischen Übermacht hat Rußland versucht, das Geiseldrama von Dagestan auf seine Weise zu „lösen“. Trotz tagelanger Verhandlungen: Die Zuspitzung des Konflikts mit den tschetschenischen Rebellen war eiskalt kalkuliert.

Die Eskalation paßt ins Konzept

Mit dem Sturm russischer Sondereinheiten auf das dagestanische Dorf Perwomaiskaja erreichte ein Geiseldrama seinen infernalischen Höhepunkt, das am Montag vor neun Tagen in der ebenfalls in Dagestan gelegenen Stadt Kisljar seinen Anfang nahm. Das ganze Geschehen der letzten Woche und auch gestern entwickelte sich hinter dem Nebelvorhang einer Nachrichtensperre, die die russischen Geheimdienste und Militärs mit Erfolg über das Krisengebiet verhängten.

Die meisten KorrespondentInnen wurden schon auf dem Weg nach Tschetschenien abgefangen. Wenige Journalisten konnten sich durchschlagen, aber auch sie wurden außerhalb der Grenzen von Kisljar und Perwomaisk in Schach gehalten.

Anders als im Juni vorigen Jahres, als tschetschenische Freischärler im südrussischen Budjonnowsk erstmals Geiseln nahmen, blieben den russischen FernsehzuschauerInnen Schreckensbilder vom Elend der Gefangenen und Statements der Rebellen diesmal weitgehend erspart. Der Rebellenführer Salman Radujew, ein Schwiegersohn des tschetschenischen Separatistenführers Dschochar Dudajew, hatte in Nachahmung des Vorgehens seiner Kollegen in Budjonnowsk auch in Kisljar ungefähr 3.000 Menschen im örtlichen Krankenhaus zusammengetrieben.

Am letzten Mittwoch wurden die meisten von ihnen nach Verhandlungen dagestanischer Lokalbehörden mit den Rebellen freigelassen. Radujews Leute setzten sich mit 130 in ihrer Gewalt verbliebenen Personen per Bus heimwärts ab. Während sie Anfangs noch den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien gefordert hatten, stellten sie jetzt nur noch eine Bedingung für die Freilassung der letzten Geiseln: die eigene sichere Heimkehr.

Dies wurde ihnen allerdings verweigert. Im dagestanisch- tschetschenischen Grenzdorf Perwomaiskaja fanden sie die Brücken über den Grenzfluß gesprengt. Deshalb kam es zur erneuten Eskalation des Dramas und zu unbeschreiblichen Leiden für die BewohnerInnen des Dörfchens.

Den gestrigen Beschluß zum Sturm begründete die russische Regierung damit, daß alle Mittel zur friedlichen Lösung des Konflikts erschöpft seien. Ein Korrespondent der staatlichen Fernsehgesellschaft Ostankino war immerhin bis zur Perwomaisker Ortsgrenze gelangt und berichtete, zwei dagestanische Älteste, die sich als freiwillige Unterhändler den Rebellen angeschlossen hätten, seien von diesen im Morgengrauen erschossen worden, ebenso habe man fünf Geiseln liquidiert – Milizionäre aus Nowosibirsk.

Andere Quellen bestritten dies, dritte nannten eine noch höhere Zahl von Erschossenen. Die bisher im großen und ganzen korrekt behandelten Geiseln würden seit gestern früh systematisch geschlagen und gefoltert, hieß es in einem Radiobericht.

Gleich, nachdem die tschetschenischen Rebellen den kleinen, ebenfalls zur russischen Föderation gehörigen Bergstaat Dagestan in ein Gefängnis verwandelt hatten, machte ihn das offizielle Moskau zur Gerüchteküche. Warum? Einen schwerwiegenden Verdacht in dieser Hinsicht äußerte Ende letzter Woche der Präsident des russischen Unternehmerverbandes, Arkadi Wolski. Wolski hatte im vergangenen Jahr die Verhandlungen zwischen Rußland und Tschetschenien als Person des öffentlichen Vertrauens geleitet. Nun deutete er an, die Regierung in Moskau müsse an einer erneuten Eskalation der Gewalt in Tschetschenien interessiert sein. Ohne Duldung gewisser Moskauer Stellen, so Wolski, hätten Radujews Kämpfer niemals nach Dagestan gelangen können.

Der Ex-Unterhändler erklärte, daß zwischen Rebellenführer Dudajew und gewissen Moskauer Geheimdienstkreisen hervorragende Kontakte bestünden, und plauderte aus dem Nähkästchen: „Wenn ich von den Verhandlungen in Grosny über Geheimkanäle Berichte oder Vorschläge nach Hause schickte, sprachen mich meine tschetschenischen Verhandlungspartner oft schon auf deren Inhalt an, noch ehe ich eine Antwort von den Moskauer Adressaten bekommen hatte.“

Passend zu Wolskis Theorie begrüßten russische Würdenträger das Vorgehen der russischen Sondereinheiten am Montag lauthals: „Banditen muß man wie Banditen behandeln, das geht nun mal nicht anders“, verkündete Ex-Duma- Präsident Rybkin. Barbara Kerneck, Moskau