Was zählt ein Leben?

■ Jelzins „Geiselbefreiung“ in Perwomaiskaja

Der Befreiungsschlag in Dagestan wirft düstere Schatten voraus. Rußlands Führung kennt keine anderen Lösungen als den unqualifizierten Einsatz von Gewalt. Aus dem blutigen Krieg seit mehr als einem Jahr hat der Kreml keine Lehren gezogen. Um das Gesicht zu wahren, beantwortet er eine Verzweiflungstat – die abscheuliche Geiselnahme tschetschenischer Terroristen – mit einem Vergeltungsschlag, der außer einem Haufen von Leichen und Bergen von Trümmern nur noch Haß hinterläßt. Das Leben der eigenen Leute hat so wenig Gewicht wie das der Geiseln. Um sie ging es schon von Anfang an nicht. Tschetschenische Rebellen hatten der um Bestätigung ringenden Supermacht einmal mehr gezeigt, wo ihre Schwächen liegen. Das galt es wieder wettzumachen – unter Einsatz aller vorzeigbaren Kriegstechnik.

Wenn Boris Jelzin Pech hat, geht er nicht nur als Bezwinger der Kommunisten, sondern auch als Totengräber des russischen Kaukasus in die Geschichte ein. Es interessiert die politische Führung nicht im geringsten, was die nichtrussischen Völker des Reiches fühlen oder wünschen. Zwar haben die Tschetschenen den Terror nach Dagestan gebracht, aber die russische Streitmacht weitet ihn aus zu einer ungeheuerlichen Vernichtungsaktion. Bewußt hat die russische Führung keine friedliche Lösung angestrebt. Und das, obwohl das Drama auf dagestanischem Gebiet stattfindet, einer Republik, die bemüht war, Neutralität zu wahren. Nun macht Moskau sie zur Geisel. Es ist ihr Ort Perwomaiskaja, der zerbombt wird, es sind ihre Menschen, die ihre Bleibe und ihr Leben verlieren.

Offensichtlich fällt der Kreml zurück in sein angestammtes koloniales Verhalten. Dabei war es vor genau fünf Jahren Boris Jelzin, der diese Haltung geißelte und die Bluttaten der Truppen des Innenministeriums in Litauen und Lettland verurteilte. Offenkundig gelten auch für ihn im eigenen Land andere Maßstäbe. Kaukasier sind schließlich keine Balten, vor denen Rußland immerhin noch ein wenig Respekt zeigte wegen ihres zivilisatorischen Vorsprungs. Nun ist es der gleiche Jelzin, der nicht nur Gewalt sät, sondern auch noch einen Scharfmacher und Tschetschenenhasser wie Nikolai Jegorow zum Chef seines Präsidialbüros beruft – just am Tag des brutalen Endschlags. Doch der vorauseilende Gehorsam des Präsidenten gegenüber der neuen, konservativen Duma wird keine Frucht tragen. Sie wird ihm das nicht danken. Selbst wenn der Präsident statt den üblichen Signalen nun Bajonette sendet. Klaus-Helge Donath