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Einmal im Leben Ruhm – für nur 15 Minuten

Der Freundin den Verlobten ausgespannt, mit dem Freund der Tochter ins Bett gegangen: aggressive Talkshows, in denen die Fetzen fliegen, werden in den USA immer beliebter. Nun nimmt die Rechte den „Kulturkrieg“ auf  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Dem Herrgott und der Technik sei Dank, daß es die Piepmaschine gibt. Tasha und Becky sind nicht mehr zu bremsen. Ihre Nasenspitzen berühren sich fast, ihre ausgestreckten Zeigefinger stechen Löcher in die Luft. „Du dreckige kleine Hure...!“ schreit die eine. Das Publikum johlt erwartungsfreudig. „Halt's Maul“, schallt es zurück, „du verdammtes Miststück, in deinem Hirn ist doch nichts als Sch...!“ Doch bevor das böse Wort in die Ohren der Zuschauer gedrungen ist, verschluckt es die Piepmaschine mit einem schrillen Ton. Beckys untere Lippe und obere Zahnreihe formen unterdessen ein inbrünstiges „fuck you“. Doch das „fuck“ wird wieder von einem „Piep“ übertönt. Dafür kommt die Maschine bei Tashas nächster Tirade einen Sekundenbruchteil zu spät. Das „Ich werde dich in deinen fetten Arsch treten“ ist klar und deutlich zu verstehen. Von den 200 begeistert johlenden Zuschauern im New Yorker Fernsehstudio ebenso wie von den 5,2 Millionen Amerikanern, die sich jeden Vormittag in die „Ricki Lake“-Show einschalten.

Heute geht es um Frauen, die sich mit den Ex-Freundinnen ihrer Männer im Dauerkrieg befinden. Im konkreten Fall um Tasha und Becky, die sich vor laufenden Kameras um Ed streiten, der sich wiederum mit indigniertem Gesicht auf dem Studio-Sofa lümmelt. Moderatorin Ricky Lake interveniert halbherzig. „Hallo, wir wollen hier keine Schimpfworte benutzen. Jeder soll zu Wort kommen.“ Natürlich sollen sie Schimpfworte benutzen und die andere nicht zu Wort kommen lassen. Genau das hat ihnen der Produktionsleiter vor der Sendung eingeschärft. „Keine Prügeleien. Aber brüllt so laut und so viel ihr könnt. Keiner macht hier Punkte, wenn er den anderen reden läßt.“ Der Schaukampf dauert nur wenige Minuten. Dann werden Ed, Becky und Tasha von der Bühne gewunken. Werbeunterbrechung. Die nächsten treten vor die Kamera, reden sich heiß. Die Piepmaschine steigert sich wieder zum Stakkato, um akustisch alle Obszönitäten zu zensieren. Schließlich sitzen um diese Zeit Hunderttausende von Kindern vor der Glotze. Am Ende der Sendung rezensiert ein Psychologe im Schnellverfahren die vorangegangenen Schlachten.

Auf den anderen Kanälen müht sich zur gleichen Zeit die Konkurrenz, um mit Ricky Lake, dem neuen Superstar des „konfrontativen Fernsehens“, mithalten zu können. Bei „Rolanda“ heißt das griffig formulierte Diskussionsthema: „Laß deine Brüste vergrößern – oder ich lass' dich sitzen“. Vor laufender Kamera und ihren Freundinnen und Ehefrauen klagen Männer über deren mangelhafte Oberweite. Maury Povich hat dagegen Mütter eingeladen, die ihren Töchtern die Freunde ausspannen. Bei Jenny Jones brüstet sich ein gewisser Chris gerade damit, seine Gattin mit 94 anderen Frauen betrogen zu haben. Dieses Mal wird das mehrheitlich weibliche Publikum ausfällig. Die Maschine piept und piept und piept...

Willkommen in der Welt der „Daytime-Talkshows“, wo sich Amerika ohne Scham und Skrupel präsentiert. Keine fiktiven Charaktere aus Seifenopern verstricken sich in Liebe, Eifersucht, Intrigen und Tragödien. Menschen wie du und ich treten auf – nur noch ein bißchen verrückter, kranker oder perverser. Man will ja nicht in den Spiegel sehen, sondern in den Fernseher.

Mittlerweile gibt es 20 dieser „Daytime-Talkshows“. Wurde der Markt vor Jahren noch von Phil Donahue und Oprah Winfrey, dem Grandseigneur und der Grande Dame des Genres, mit Themen wie „Haben Sie sich zu hoch verschuldet?“ oder „Mein Kind hat Aids“ dominiert, so gräbt ihnen nun eine neue Generation von Moderatoren das Wasser ab. Promiskuität, Inzest, kaputte Beziehungen, sexueller Mißbrauch und Homosexualität sind die Schlagworte, um die ihre Shows kreisen. Je verzweifelter die „Opfer“, je perverser die „Sünder“, je wütender das Publikum – desto besser. Geena, die neulich in der „Richard Bey Show“ ihrer Freundin einen Geburtstagskuchen präsentierte, dann den Beischlaf mit deren Verlobtem beichtete und die Torte ins Gesicht geschleudert bekam – das sind Auftritte nach dem Geschmack von Moderatoren und Produzenten.

Die Kinder des Fernsehzeitalters wollen keine Jobs mehr, sondern Rollen, sagte einst Marshall McLuhan. Viele Gäste in den Shows von Ricky Lake, Rolanda, Jenny Jones oder Richard Bey haben in ihrem Leben nie mehr als miese Jobs gehabt – und gieren nach der Rolle als „Täter“, „Opfer“ oder einfach nur als „Streithahn“ – auch wenn der Auftritt nur wenige Minuten dauert. Jeder Mensch wird seine 15 Minuten Ruhm im Leben einheimsen, prophezeite ein anderer Guru der amerikanischen Massenkultur, Andy Warhol.

Die Sucht nach Ruhm und Scheinwerferlicht erklärt zu einem großen Teil die Motivation von Leuten, ihre intimsten Probleme vor einem Millionenpublikum ausschlachten zu lassen. Die Gäste bei Ricky Lake, Jenny Jones oder Jerry Springer bekommen keine Gage. Lediglich der Flug ins Studio mitsamt Unterkunft und Limousine wird bezahlt. Eine gebührenfreie Nummer flimmert in jeder Sendung über den Bildschirm, bei der Aspiranten auf Anrufbeantworter ihre „Geschichte“ anbieten können. Das tun täglich ein paar tausend.

Neben der Gier nach kurzzeitigem Ruhm ist es vor allem Sendungsbewußtsein, das Menschen vor die Kamera treibt – vor allem solche, die sich als Außenseiter und Ausgegrenzte sehen. Patricia Priest, Autorin eines Buches über den Exhibitionismus in Daytime- Talkshows, kam nach zahlreichen Interviews mit Talkshow-Gästen zu dem Schluß, daß sich viele „wie Prediger an einer Straßenecke fühlen“, die andere für ihr Schicksal einnehmen oder einfach nur ihre Präsenz und ihre Rechte einklagen wollen.

Das gilt z.B. für Homosexuelle wie Brenda und Wanda Henson. Die beiden Lesben und Gründerinnen eines Frauenzentrums in Mississippi lieferten sich bei „Oprah Winfrey“ und anderen Talkshows Rededuelle mit Farmern aus ihrem Dorf, die ihnen unterstellten, ein „lesbisches Bordell“ zu leiten und ihre Ehefrauen „zu verhexen“. Das gilt, so Priest, häufig auch für Opfer von Vergewaltigungen und Inzest. „Diese Menschen glauben, für ihre Gruppe sprechen zu müssen.“ Viele fühlten sich bestärkt durch die Erfahrung, im Fernsehen gewesen zu sein. „Wenn man vor dem ganzen Land aufgetreten ist“, erklärte eine Frau, die die Heirat mit dem Ex-Mann ihrer Schwester vor der Kamera debattierte, „dann schafft man auch alles andere im Leben.“

Angesichts des herrschenden politischen Klimas ist es nicht verwunderlich, daß Daytime-Talkshows nun mitten in den amerikanischen „Kulturkrieg“ geraten sind. Unter diesem martialischen Ausdruck versteht man die Debatte um den vermeintlichen oder tatsächlichen Moralverfall der Gesellschaft – und die Suche nach den Schuldigen. William Bennett, Ex-Erziehungsminister unter Ronald Reagan und Autor mehrerer moralischer Leitfäden, startete mit Unterstützung der demokratischen Senatoren Joseph Lieberman und Sam Nunn eine Kampagne gegen Ricky Lake und Co. „Kulturelle Umweltverschmutzung“, warfen sie den Moderatoren vor – und nahmen lediglich Oprah Winfrey von der Kritik aus. Lieberman bezeichnete den Vorstoß als die „Revolte der Angeekelten“. Diese Shows machten das „Abnorme zum Normalen“. Bennett, einer der führenden Intellektuellen der amerikanischen Rechten, formuliert es so: „Ich glaube an das Konzept der konstruktiven Heuchelei.“ Mit anderen Worten: Eine zivilisierte Gesellschaft tut gut daran, ihre Perversionen nicht nach außen zu kehren.

Wer nun was als Perversion definieren darf, ist eine der entscheidenden Streitfragen in diesem „Kulturkrieg“. Homosexualität gilt in den Augen vieler Konservativer aus Bennetts Umfeld als „abartiges Verhalten“ oder als „Krankheit“. „Daytime-Talkshows“ sind nicht zuletzt deshalb attackiert worden, weil sie Schwulen und Lesben ein Forum bieten – auch wenn dieses selten über das Niveau eines Stammtisches hinausreicht. Doch der zunehmend konfrontative Stil der Sendungen, von Ricky Lake geprägt und von anderen mittlerweile immer stärker imitiert, läßt die Zahl der Kritiker auch außerhalb des Lagers der Konservativen wachsen – spätestens seit jener „Jenny Jones- Show“ im März, die für einen Gast tödlich endete.

Das Thema klang harmlos: „Der heimliche Schwarm“. Leute, die anonym Liebesbriefe schrieben, sollten erstmals mit ihren Angebeteten konfrontiert werden. Jonathan Schmitz wartete unter dem Raunen des Publikums gespannt auf eine weibliche Bewunderin – und reagierte wie versteinert, als unter noch lauterem Johlen der Zuschauer der homosexuelle Scott Amedure vor die Kamera trat und seine Zuneigung für Schmitz gestand. Wenige Tage nach der Show marschierte Schmitz mit einem Revolver zu Amedures Haus und erschoß ihn – als Rache für die „Demütigung“.

Die Lunte an dieses Faß hatte die beliebte Methode von Talkshow-Moderatoren gelegt, unwissende Gäste in Situationen zu bringen, die sie subjektiv als möglichst peinlich oder erniedrigend empfinden müssen. Jenny Jones nutzte den Mord branchengerecht: Sie präsentierte sich in der nächsten Sendung dem Publikum selbst als Opfer eines „Traumas“, und berichtete mit zittriger Stimme von der „Trauerarbeit“ im Produktionsteam.

So viel voyeuristische Gier nach sensationeller Beute hat inzwischen auch die Clinton-Administration auf den Plan gerufen. US- Sozialministerin Donna Shalala ermahnte jüngst Showproduzenten bei einer gemeinsamen Diskussion, sich etwas genauer zu überlegen, welche Themen man in welcher Weise einem zunehmend jugendlichen Publikum zumutet. An der Spitze dieser Kampagne steht aber weiterhin William Bennett, der gerade erst den Unterhaltungskonzern Time Warner genötigt hat, aus dem Geschäft mit „Gangsta Rap“ auszusteigen.

Zensur will der Moralexperte und Mitbegründer der konservativen Lobbygruppe „Empower America“ nicht. Statt dessen greift er Produzenten und Fernsehgesellschaften an ihrem wundesten Punkt an: dem Anzeigengeschäft. Mit Pressekonferenzen, Broschüren und einem gebührenfreien Infotelefon werden ebenso „angeekelte“ Fernsehzuschauer ermuntert, Protestbriefe an Konzerne wie Philip Morris, Mars, Pfizer oder Kimberly Clark zu schreiben, die allesamt Werbezeit in „Daytime-Talkshows“ kaufen.

Einige dieser Unternehmen sind wichtige Spendengeber für Bennetts „Republikanische Partei“, doch das ficht ihn nicht an: „Pech. Manchmal muß man eben auch auf seine Freunde losgehen.“ Erste Erfolge zeichnen sich ab, denn Privatunternehmen reagieren in den USA sehr empfindlich, wenn ihr Image in Sachen Sitte und Moral öffentlich in Frage gestellt wird. Der Konzern Procter and Gamble hat seine Werbespots bereits zurückgezogen.

Erste Erfolge sind aber auch schon in den Talkshows zu sehen. Keine zwei Wochen nach Bennetts Attacke auf die Werbekunden, haben Ricky Lake und Co. plötzlich die Tugend in Amerika entdeckt. Mitte Dezember hat Lake schwangere Frauen in die Show geholt, die während der Sendung von einem Heiratsantrag ihres Freundes überrascht werden. Jones optiert für die moderne Version und führt Pärchen vor, die bislang nur über das Internet miteinander kommuniziert haben.

Am Ende der Sendung verzeichnet Ricky Lake sieben und Jenny Jones fünf heiratswillige Pärchen. Dieses Mal sind keine Psychologen anwesend, sondern Geistliche, die vor laufenden Kameras zwölfmal den Bund fürs Leben besiegeln. Soll noch einer sagen, Daytime-Talkshows unternähmen nichts zur Rettung der amerikanischen Familie.

Ob das alles normal ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.

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