Schweigen vor der Grausamkeit des Krieges

■ Russisches Parlament eröffnet Sitzungsperiode mit Gedenkminute für die Opfer des Geiseldramas. Reformer kündigen Mißtrauensvotum gegen die Regierung an

Moskau (taz) – Mit einer Schweigeminute für die Opfer des jüngsten Geiseldramas ging Rußlands im Dezember neu gewähltes Parlament in die neue Legislaturperiode. Der Auftakt verlief ruhig, ohne besondere Vorkommnisse. Selbst Wladimir Schirinowski, Vorsitzender der chauvinistischen „Liberaldemokratischen“ Partei und drittstärksten Fraktion, nahm sich diesmal zusammen. Sogar für die Wahl des spiker – des Parlamentsvorsitzenden – zog er seine Kandidatur zurück und ersparte dem Land damit einen ganzen Batzen Unannehmlichkeiten. Offiziell begründete er den Verzicht mit seiner Absicht, bei den Präsidentschaftswahlen im Juni anzutreten.

Nun konkurrieren nur noch drei der vier Fraktionen um den Posten des Vorsitzenden. Die liberaldemokratische Partei „Jabloko“ schlug Wladimir Lukin vor, der im letzten Parlament dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten vorsaß. „Unser Haus Rußland“, der Wahlblock Premierminister Tschernomyrdins, schlug Iwan Rybkin vor, den Vorsitzenden der letzten Duma. Rybkin gelangte nur über ein Direktmandat ins Parlament. Sein linkszentristischer Wahlblock schaffte nicht den Sprung über die Fünfprozenthürde. Die Kommunisten stellen Gennadi Selesnew zur Wahl.

Bereits zuvor hatte der Vorsitzende Jablokos, Grigori Jawlinski, angekündigt, seine Fraktion wolle gegen die Regierung von Präsident Jelzin wegen ihres Vorgehens in Tschetschenien einen Mißtrauensantrag stellen. 226 der 450 Stimmen wären dafür nötig. „Jabloko“ verfügt indes nur über 45 Sitze. Allerdings könnten die Kommunisten aus anderen Motiven den Antrag mit unterstützen. Selbst dann müßten sich noch 25 Parlamentarier des nationalistischen Spektrums dazugesellen.

In der Sitzungspause hatte der Vorsitzende der Kommunisten, Gennadi Sjuganow, Jelzin aufgefordert, auf eine zweite Präsidentschaftsrunde zu verzichten: „Es wäre besser für den Präsidenten und das ganze Land, wenn Boris Jelzin aus Gesundheitsgründen seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen nicht noch einmal vorbrächte.“ Im weiteren wurde Sjuganow konkreter: „Ich glaube, keiner kann seine Chancen damit steigern, daß seine Politik bankrott gegangen und in sich zusammengebrochen ist.“

Vielleicht ein weiterer Beweis für den bevorstehenden Bankrott: der Rücktritt von Vizepremier Anatoli Tschubais, der gestern in Moskau bekannt wurde. Tschubais gehörte der ersten Reformergeneration an. Mit ihm geht eines der letzten liberalen Kabinettsmitglieder, die für einen anderen Kurs und neuen Politikstil standen. Klaus-Helge Donath