: Verstecktes Metzgern
■ Der Goldene Bär, ein Gummibärchen: Der Sieger der letzten Berlinale „Der Lockvogel“ ist moralinsauer
Es ist ja immer das gleiche Gezeter. Wenn ein Fim bei der Berlinale prämiert wurde, mag ihn keiner mehr. Ein jeder sieht sich und seinen Favoriten übergangen. Im letzten Jahr war die Ablehnung wieder besonders einhellig: Der Lockvogel von Betrand Tavernier habe noch nicht einmal ein Gummibärchen verdient. Manch einer wollte dennoch dem Film etwas abgewinnen, denn die illustre Jury aus Filmschaffenden konnte doch wohl nicht völlig erblindet sein.
Doch, um es gleich vorweg zu nehmen, Der Lockvogel gibt dazu kaum Anlaß. Die altmeisterliche Auseinandersetzung mit jugendlicher Kriminalität strotzt vor Ahnungslosigkeit. Tavernier weiß augenscheinlich noch weniger als wir von der Beziehung zwischen Gewalt und juvenilen Sehnsüchten. Dabei basiert Taverniers neuer Film wie schon sein erster, Der Uhrmacher von Saint-Paul, auf einem realen Fall.
Wie ihrem Vorbild gelingt es der jungen Verkäuferin Nathalie (Marie Gillain) mit Lolita-Charme, ältere, gutbetuchte Herren zu verführen. Ihr Freund Eric (Olivier Sitruk) und dessen etwas debiler Kumpel Bruno sehen mit ihr als Lockvogel, der die Türen in den feinen Arrondissements öffnet, die Chance, an Geld zu kommen. Doch entweder die Wohnungstür klemmt, sie ziehen sich die Kapuzenmütze vom Kopf oder decken in der Hektik ihre Verbindung zu Nathalie auf, eine Panne passiert immer. Und dann muß Bruno halt mit einem Messer an den Rechtsanwälten herummetzgern.
Die gewalttätigen Szenen hat Tavernier jedoch allesamt hinter schweren Eichentüren versteckt und setzt so die Mähr vom Horror, der sich erst in den Köpfen der Zuschauer abspielt, in Szene. Nur gehört will uns Tavernier das Unzeigbare nahebringen und erzeugt so unfreiwillig eine Niedlichkeit in der Gewaltdarstellung, die seinen Absichten wohl entgegenläuft. Was als Affront gegen die elegante Art der Tötung in Hollywood gedacht war, gerät ihm gar zur Groteske, als die Opfer einfach nicht tot werden wollen.
Wenn Tavernier Philippe Noiret als Uhrmacher noch in seine Abgründe blicken läßt, hält er dies heuer nach eigenem Bekunden nicht für nötig. Der Blick auf die verantwortungslose Jugend gerät ihm so flach und moralinsauer wie eine Schlagzeile. Schuld an alledem sei der Kulturimperialismus der USA. McDonald's, Scarface in der Glotze und die Werbung machen die lieben französischen Kinderlein zu ausgehöhlten Menschenmonstern, zum gleichgültig mordenden Trio.
Volker Marquardt
Metropolis
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen