Unterm Strich

Aus der Rede Alexander Kluges anläßlich der Beerdigung Heiner Müllers (Kluge gab letztes Jahr einen Band von Gesprächen mit Müller heraus, Titel: „Ich schulde der Welt einen Toten“):

„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mir geht es so in diesem Haus, daß ich ihn um die Ecke biegen sehe, in der einen Hand das kleine Sakrament, in der anderen die Zigarre auf dem Weg zu uns. Vom Witz gepanzert. Das ist etwas, was sicher unrealistisch ist am Tag der Beerdigung, und gleichzeitig ist es ein wirklicher Wunsch. (...) Er ist 1929 geboren. Ein Autor dieser Art nimmt immer auch den Blick der Mutter an. Das heißt, die 20 Jahre vor seiner Geburt sieht er mit den Augen der Eltern. Die 67 Jahre danach hat er selber gesehen. Er sieht, wie gesagt, die Chiffre des 20. Jahrhunderts, wie es mit den Menschen in diesem Jahrhundert gemeint ist. Andrej Bitow, sein Freund, der auch hierher gekommen ist, hat gesagt, das 20. Jahrhundert beginnt 1914, und es endet 1989. Wir sind schon im 21., wir sind eigentlich schon bei der Übergabe an die Erben. Wir haben 1914 die Spaltung der Arbeiterbewegung erlebt, sie konnte sich nie wieder vereinigen. Die Spaltung kommt daher, daß es den Arbeitern und ihren Organisationen nicht gelingt, den Ersten Weltkrieg zu verhindern. Und wenig später dann die Schlachtbank von Verdun, die für Heiner Müller immer wieder eine Chiffre darstellt: die Blüte der Industrien Europas gegeneinander in dieser Art von Kampf mit Giftgas und maschineller Selbstvernichtung. Und subjektiv – nicht nur bei den Toten von Verdun, sondern bei den Untoten, die aus Verdun wiederkehren – zu einer inneren Panzerung führt. Und das Schreckliche, sagt Heiner Müller, was geschieht, wenn der Mensch innerlich einen Charakterpanzer trägt und äußerlich anfängt, auf Schienen zu fahren, ist, daß es nur zwei Alternativen gibt. Und das ist (...) wahrscheinlich die Chiffre des 20. Jahrhunderts: daß diese Menschen, auf Schienen gesetzt, subjektiv daraus nicht heraus können. Und diese Schienen führen wie ein Eisenbahnverkehr nach Auschwitz. (...) Es ist eine starke emotionale Bewegung im ganzen Land, integrierend auch in diesem Fall, die hier ihm zuarbeitet in dem traurigen Moment, in dem wir jetzt stehen. Wir aber müssen auch für diesen traurigen Tag heute, wo wir Abschied nehmen, nicht die Ohren hängenlassen. Er hat uns eine Menge Arbeitsaufträge und Hinweise mitgegeben ... In seinem letzten Gespräch sagte er: „Weißte eigentlich, wie die Straße heißt, die hier entlangführt. Die heißt ,Am Zirkus‘. Warum bringen wir nicht neben die Sprechschauspieler Artisten des Körpers, die wie im Zirkus sind?“ (...) Die Trennung zwischen Musik- und Sprechtheater muß aufgelockert werden. Theater, sagt er, sind Reparaturwerkstätten für nicht fahrbereite Klassiker – aber auch nicht fahrbereite Operetten. Dieses Theater hier ist die Stätte, wo die Drei-

groschenoper aufgeführt wurde ...

(...) Es gibt eine Stelle in einem Film, die ihn sehr beeindruckt hat. Jean-Luc Godard läßt in einem Film eine ganze Minute lang Schwarzfilm einschneiden, das heißt, den Kinosaal verdunkeln. Die Menschen hören eine ganze Minute lang ihrem Atem zu, daß sie lebendig sind. Und sie ehren die Bilder, in dem sie einen Moment hinnehmen – und eine Minute ist sehr lang im Kino –, daß kein Bild da ist. [Anmerkungen Ihrer Kinoredaktion: Glauben Sie kein Wort! Wenn so was passiert, verlangen Sie Ihr Geld zurück!] Ich glaube, daß es ihm gefallen würde, wenn wir unseren Dank an ihn abstatten, indem wir uns jetzt einen Moment erheben und eine Minute schweigen.“

Und aus der Rede Stephan Hermlins:

Der Staat, dem Müller nicht diente, der ihn aber auch aus diesem Grunde als eine ungewöhnliche Kraft zur Durchsetzung seiner ursprünglichen Ziele hätte behandeln müssen, hatte sich entschieden, ihn als Gegner zu sehen, und ging auch daran zugrunde – er hatte sich jahrzehntelang mit außerordentlicher Konsequenz als Freunde und als Feinde die Falschen ausgesucht. Das revolutionäre Werk Heiner Müllers steht als Findling in der Landschaft der deutschen Literatur, ähnlich den Werken früherer Epochen, die den Ablauf und die Folge gescheiterter Revolutionen markieren. Die bürgerliche Gesellschaft erwies sich mit ihrer zur Toleranz verklärten Gleichgültigkeit für dieses Werk als günstiger verglichen mit dem stumpfen Mißtrauen eines gescheiterten Sozialismus. (...) Ich entsinne mich, wie Heiner Müller und das Berliner Ensemble im vergangenen Jahr, anläßlich meines achtzigsten Geburtstags, von mir gewünscht hatten, ich möge in diesem Theater aus „Die erste Reihe“ vorlesen. Es ist ein kleines Buch, das (...) die Biographien von dreißig jungen Widerstandskämpfern beschreibt, die im Kampf gegen Hitler umgekommen waren. Ich sah, während ich las, Heiner Müller nur wenige Meter vor mir. Er weinte. Ich brauche über Heiner Müller nicht belehrt zu werden. Es gab zwischen ihm und mir keine Seelenergießungen, aber eine unzerstörbare Verbundenheit. Auch jetzt, wo ich zum tausendsten Male von seinem Whiskey und seinen Zigarren lesen kann, weiß ich, daß er weiter bleibt, was er war, und daß er eines der unsterblichen Opfer ist, von denen das Lied berichtet.“