Tanz den Satanstango

Der Russe geht mit; tu's nicht! denkt man noch, aber da sind sie schon bei dem Fremden zu Haus. Fred Kelemens zweiter Film, „Verhängnis/Fate“, spielt in einem vormodernen Berlin – grobkörnig bis an die Auflösungsgrenze  ■ Von Mariam Niroumand

Gezeigt auf dreißig internationalen Festivals von Göteborg bis Minneapolis, geehrt mit dem Filmband in Silber und Füllhörnern voller Lobeshymnen, braucht Fred Kelemens Film „Verhängnis/ Fate“ jetzt eigentlich nur noch ein bißchen echtes Publikum, und alles ist in Butter.

Dem Presseheft ist ein Zitat des Dalai Lama vorangestellt: „Die Entfernung zwischen unserem jetzigen Leben und einem Höllendasein kann natürlich so groß sein wie ein einziger Atemzug.“ Natürlich, selbstredend! Wir entern das, was Kelemen unter Berlin versteht, durch die Augen einer Art Überwachungskamera. Ihre Bilder sind grobkörnig bis an die Auflösungsgrenze, das Licht gelblich düster, bestimmt wie das in Gottfried Benns Morgue. Die Kamera betrachtet, zittrig und von leicht erhöhtem Standpunkt, die Gesichter einiger Bahnhofsmenschen: Eine Alkoholikerin schwenkt uns ihr Glas hin, offenbar singt sie, vielleicht auch nicht, wir hören nur wehe Akkordeonklänge; sie versucht sich an einer Pirouette, an der verlorenen Unschuld junger Mädchengrazie, und muß zahnlos grienend scheitern. Plastikbecher leuchten auf, stiere Blicke gehn ins Leere, emsig klopft einer seine Hosen ab; ein Ausgang aus der selbstverschuldeten Cordjacke ist nicht in Sicht.

Das geht so eine Weile, in Filmzeiten lang genug, um das Attribut „dokumentarisch“ hervorzulocken, das unfehlbar auf Handlungsarmut und Handkameragebrauch folgt. Solchermaßen dantemäßig bei der Hand genommen, landen wir dann aber auf der Treppe, von der aus das Verhängnis seinen Lauf nehmen wird. Ein Kerl, er muß Russe sein, spielt auf dem Akkordeon. Ein anderer nähert sich ihm, schüttelt ihm die Hand; aber der Ton ist nach wie vor rauschend-abgedämpft, und so bleibt unverständlich, was gesagt wird. Nicht wichtig: Wir sehen, wie mit einem Geldschein gewunken wird. Der Russe geht mit; tu's nicht! denkt man noch, aber da sind sie schon bei dem Fremden zu Haus, trüb auf einer Couch, der Russe soll weiterspielen, und weiter, und weiter, einen Satanstango.

Mehr Geld taucht auf. Was in der modernen Großstadtsoziologie noch ein Mittel zur Versachlichung und Kompatibilität der Beziehungen zwischen den Nervösen war, ist hier noch immer ein mythischer Unheilstifter, der Teufel möglicherweise, einer barocken Zeichnung entsprungen. So war es schon in L'Herbiers „L'argent“ (1929), in dem das Geld ein Karussell fataler Begehrlichkeiten zwischen einem Banker und dem Paar, das er zu retten vorgibt, in Gang setzt; oder in Robert Bressons gleichnamigem Film von 1982, in dem falsche Banknoten (der Gipfel des Blendwerks) einen jungen Öllieferanten in ein Unglück stürzten, dem schließlich eine ganze wohlmeinende Familie zum Opfer fällt. In beiden Filmen sind Fremde im Spiel, die das Geld in Umlauf gebracht haben; in der gleichen Verdächtigungsrhetorik hießen sie mal „Die Zirkulationsagenten“.

Der Russe soll Wodka trinken, es gibt auch noch mehr Geld. Er trinkt die große Flasche auf einen Zug, steckt das Geld ein und taumelt hinaus in die Stadt. Vor einem Springbrunnen zieht er die Hosen aus und wankt zum Wasser, ans Licht. Dann geht er spielen. Billard spielen, in einer Spelunke, wo Männer rötlich anschwellen wie auf Grosz-Gemälden. Schon denkt man: Und wann geht er zum Weib?, da ist es auch schon soweit, schließlich müssen wir durch alle sieben Todsünden, oder hat jemand „Seven“ noch nicht gesehen? Dort kommt es zum Schußwechsel, aber weil das Geld bei ihr bleibt, geht auch mit ihr das Verhängnis weiter. In einer Mischung aus Isabella Rossellini und „Maria durch ein Dornwald“ stürzt sie nackt hinaus in die Nacht, wo Vergewaltiger warten. Sparen wir uns die finalen Details.

Bei gewissen Brücken weiß man: Der Drehort ist Berlin, da tauchen die S-Bahn-Brücken am Savignyplatz auf (wie schon in „Cabaret“), einige Kneipen von vor ein paar Jahren, dies und das im Bezirk Mitte. Aber alles in allem handelt es sich um eine seltsam vormoderne, karge Landschaft, so ähnlich wahrscheinlich wie Peter Handkes Serbien, ein weites Feld, leergeräumt zum lustigen Allegorisieren. Wo Sozialämter, Kunst am Bau, Nachbarschaftsläden und Cafés namens Schalotte gemüteln, da läßt sich schlecht mit Memento mori herumfuchteln. Niemand kann ernsthaft etwas dagegen haben, daß ein Film sich seine eigene Version von Großstadt zusammenleuchtet. Der Film Noir wäre ohne den nächtlichen Asphalt nicht denkbar, das Melodram nicht ohne den Regen, „To Die for“ nicht ohne seinen gleißend blauen Himmel und so weiter. Aber was so unangenehm berührt, bei all den Tarkowskij, Antonioni, Angelopoulos e tutti quanti e epigoni, ist dieser Zug zum Höheren, der seinem eigenen Stoff nicht über den Weg traut.

Es heideggert mächtig, wenn die Protagonisten von Kemelens „Verhängnis/Fate“ (sein erster langer Spielfilm hieß „Kalyi – Zeit der Finsternis“, 1993) sämtlich verschiedene Sprachen sprechen: Unbehauste (manchmal unbehost, harhar!), Geworfene, die nur ihrer Gier als einzigem sendero luminoso durch die düsteren Schluchten der kalten Großstadt folgen. Von der Schäferdichtung bis zur „blauen Blume“, vom Mysterienspiel bis Botho Strauß: Wer seine Protagonisten nur als Allegorien wandeln läßt, riskiert, daß sie langweilen. Weniger Weihrauch wäre hier mehr gewesen.

Bei der augenblicklichen Struktur europäischer Filmförderung bietet sich das Allegorisieren an. Es eignet sich nämlich eher für den Export, so jedenfalls meint man vielerorts, als Großstadtfilme wie die von Nanni Moretti oder Eric Rohmer, die deskriptiver und weniger grobkörnig arbeiten. Verdunkelung ist gefragt!

Kelemens Film ist die Abschlußarbeit eines knapp Dreißigjährigen für die Film- und Fernsehakademie Berlin, die prompt die heiß ersehnte und selten gewährte Verleihförderung erhalten hat. „Ein großes fatalistisches Gemälde“ schrieb der Tagesspiegel, „Ein Reigen der Randexistenzen, die die ihnen angetane Gewalt jeweils an den nächsten Partner weitergeben, ein Totentanz“ die FAZ, und schließlich die Village Voice: „a genuine cause for celebration ... About displaced people at the end of their rope in a chaotic middle Europe that is very close to hell.“ Ach Europa!

Im Abspann ist Béla Tarr erwähnt, der ungarische Filmemacher, dessen Einfluß auf „Verhängnis/Fate“, vor allem durch seinen Berlinalebeitrag „Satanstango“, mehr als deutlich wird. „Satanstango“ wirkt in der Tat wie ein letzter Film, letzte Aufnahmen von einem verfallenen Gehöft im ungarischen Hinterland, auf dem die Zeit gespenstisch schleicht, Katzen von einsamen Kindern vergiftet werden, Nebel drückt und riesige, ungeschlachte Bauern sich wortlos in schwerem Tanz drehen.

Im Unterschied zu Kelemens Berlin mußte hier nichts weggeräumt werden, damit Kargheit entsteht. Tarr hat dem Geschehen nach dem Zerfall des großen Systems eine Kunstform gegeben, in der es zwar spezifisch und lokal definiert bleibt, aber gerade deshalb auch international verwendbar, und sogar irgendwie unvergeßlich.

„Verhängnis/Fate“, Regie: Fred Kelemen. Mit: Sanja Spengler, Valerij Fedorenko. D, 1994