Ein Krieger auf Stimmenjagd

Sein bisheriges Leben widmete er dem militärischen Kampf gegen Israel. Jetzt kandidiert Salah Ta'amari für das palästinensische Parlament  ■ Aus Bethlehem Karim El-Gawhary

Aus hundert Mündern dampft der Atem. Trotz der kalten Abendluft hat sich eine Gruppe von Dorfbewohnern in der kleinen Garage zusammengefunden – von Kindern bis zu alten Dorfnotablen. Die Frauen haben sie in alter Tradition zu Hause gelassen. Heute gibt es Wichtiges zu besprechen.

Das erste Mal dürfen die palästinensischen BewohnerInnen des Dorfes Beteer wählen. In dem auf den sanften Hügeln rund um Bethlehem gelegenen Dorf herrscht Wahlkampffieber. Über 1.200 Männer und Frauen werden hier am Samstag die Möglichkeit haben, ihre Stimme abzugeben. Heute gilt es, einen der vier lokalen Kadidaten für einen Sitz im palästinensischen Parlament von Angesicht zu Angesicht kennenlernen.

Arafat ließ den Kandidaten von der Liste streichen

Der Versammlungsort, ein örtlicher Jugendclub, ist kahl. An den grau übertünchten Wänden hängen einige wenige Poster der Kandidaten des Wahlkreises Bethlehem. In der Ecke steht ein alter Billardtisch, auf dem es sich eine Gruppe von Kindern gemütlich gemacht hat. Mehrere Dutzend Männer haben sich auf den kleinen weißen Plastikhockern niedergelassen. Der Rest drängt sich erwartungsvoll um das Eingangstor, als Salah Ta'amaris Jeep vor der Garage hält. Heraus steigt ein hagerer, großer, weißhaariger Mann, eingepackt in einen grünen Militärparka und mit einer Kufia, dem traditionellen schwarzweißkarierten palästinensischen Tuch, um den Hals. Sein sportliches Auftreten verbirgt die 53 ereignisreichen Jahre seines Lebens.

„Habt ihr keinen heißen Tee?“ fragt der offensichtlich schon bekannte Gast. Und: „Schickt doch die Kinder zum Spielen, was sollen sie meine langweiligen Reden anhören! Sie haben ohnehin keine Stimme.“ Die Atmosphäre ist locker, man witzelt miteinander. Die Dorfältesten begrüßen den Kandidaten mit Bruderkuß. „Abu Hassan“ – „Vater von Hassan“ – nennen sie ihn liebevoll, wie einen der Ihren. Die Jüngeren halten respektvoll Abstand. Auch die neugierigen Kinder machen keine Anstalten, sich vom Filz des Billardtisches zu erheben. Ta'amari verbreitet Respekt. Er hat Qualitäten, die sich in seinem Wahlkreis als Gold wert erweisen könnten: eine lange Kämpfertradition innerhalb der PLO. Einen Namen hatte Ta'amari sich 1982 gemacht, als Kommandant einer palästinensischen Einheit im Südlibanon, die den israelischen Truppen bei ihrem Einmarsch heftigen Widerstand leistete. Später, in israelischer Haft, machte er als Gefangenensprecher von sich reden.

Als Ta'amari zu sprechen ansetzt, herrscht gespannte Stille. Was mag dieser alte Kämpfer in Zeiten nach dem Friedensabkommen der PLO mit Israel als Parlamentsabgeordneter bieten?

„Es gibt einen Unterschied zwischen Träumen und Illusionen“, beginnt er. „Ich will euch nichts vormachen. Ich habe genauso Angst vor der Zukunft wie ihr. Was ihr am nächsten Wochenende wählen werdet, ist kein herkömmliches Parlament. Wir haben keinen Staat, unmittelbar um die Ecke liegen ein israelisches Militärlager und mehrere israelische Siedlungen.“ „Und dennoch“, fährt er im Stegreif fort, wie um sich selbst und seinen Zuhörern Mut zu machen, „die meisten Menschen haben ein positives Gefühl, fühlen, daß sich ihre Situation verbessert.“ Jeder erwarte etwas anderes von dem neuen Parlament. Die Israelis wollten die palästinensische Volksvertretung zu einem Stadtparlament degradieren, mit reinen Verwaltungsbefugnissen, am besten als Ersatz für die PLO. Die Palästinenser hofften dagegen, es möge der Grundstein für einen eigenen Staat sein. Dann lenkt er die Zuhörer auf das bisher Erreichte. „Die jetzigen Wahlen sind die Anerkennung unserer Existenz. Die Israelis können nicht mehr behaupten, das sei ein Land ohne Volk.“

Ta'amaris Rede kommt bei den Bauern an. Sie wollen kein Wahlprogramm, wie es manche der anderen Kandidaten fast schon mechanisch herunterbeten, wenn sie von Jerusalem als der Hauptstadt des palästinenischen Staates, der Rückkehr der Flüchtlinge und dem Abbau der israelischen Siedlungen sprechen – alles Dinge, die nicht in der Macht der palästinensischen ParlamentarierInnen stehen werden. Statt dessen sind sie auf der Suche nach Leuten, denen sie trauen können, die sie in der schweren Zukunft nicht im Stich lassen. Der aus einer großen Beduinenfamilie stammende PLO- Kämpfer hat da gute Karten. Im Wahlkreis Bethlehem zweifelt kaum jemand an dem Sieg des charismatischen Kandidaten.

Um so mehr verwunderte es, daß Ta'amari, ein langjähriges Mitglied von Jassir Arafats Fatah, der größten Organisation innerhalb der PLO, vor wenigen Wochen von der Kandidatenliste der Fatah gekippt wurde. Bei internen Fatah- Wahlen in Bethlehem Ende letzten Jahres war er noch auf Platz eins der Liste gesetzt worden. Doch kurz darauf wurde sein Name wieder gestrichen – auf Anweisung Arafats. Ta'amari wurde, wie manche andere prominente Fatah-Mitglieder, Opfer von Arafats „Teile und herrsche“-Politik. Der PLO-Chef hielt es für opportun, einen reichen Angehörigen aus Ta'amaris Beduinenstamm auf die Liste zu setzen. Mit der derart modifizierten Liste wollte Arafat in alter Manier alle politischen und sozialen Strömungen einbeziehen. Ein reicher Geschäftsmann sollte sich ebenso auf der Liste finden wie einige Oppositionelle, die in den letzten Wochen noch flugs in die Fatah eingetreten waren. Ta'amari kandidiert deshalb als Unabhängiger. „Fatah und die Fatah-Liste sind nicht ein und dasselbe“, erklärt er seinen Zuhörern, die über Arafats Entscheidung die Köpfe schütteln. Ein wenig kokettiert er gegenüber seinem reichen Kontrahenten. Manche gäben Tausende von Schekeln für ihren Wahlkampf aus, seine Wahlkampfhelfer arbeiteten dagegen alle auf freiwilliger Basis: „Seit zwei Wochen bekomme ich sogar meine Zigaretten geschenkt, und ich rauche eine bessere Marke als zuvor.“ Der Saal lacht, wohl wissend, daß der mit der Exfrau des jordanischen Königs verheiratete Ta'amari nicht in den ärmsten Verhältnissen lebt.

Wenige Autominuten von Beteer entfernt liegt Doha: zwei Wahllokale, ein wenig mehr als 1.300 Wahlberechtigte. Gut 200 von ihnen warten bereits im geräumigen und zugigen Gemeindesaal. Ganz vorn haben die Honoratioren, der Dorfscheich und der blinde Imam der Moschee Platz genommen. Nach der erneut herzlichen Begrüßung und einem Glas dampfenden Tee stellt sich Ta'amari vor die Menge, kaut leger an einigen Kürbiskernen und spricht erneut von der großen Politik. Es gehe nicht darum, für oder gegen das Autonomieabkommen mit Israel zu sein, sondern darum, wie man mit dieser Realität umgehe. Die Zuhörer nicken zustimmend. Doch dann wird Ta'amari schnell mit konkreten lokalen Problemen konfrontiert. Neben dem Tee haben ihm die Dorfbewohner eine Liste mit Forderungen für ihre Gemeinde serviert. Ganz oben steht: ein dringend benötigtes Abwassersystem. „Ich verstehe eure Probleme, will euch aber nichts versprechen, weil ich euch nichts versprechen kann“, lenkt der redegewandte Kandidat ein. Im Gaza- Streifen gebe es noch Tausende von Eselskarren, weil sich die Menschen kein Auto leisten könnten, setzt er entgegen. Die Ansprüche der relativ wohlhabenden Dörfer im Westjordanland stehen nicht auf der Prioritätenliste der neuen palästinensischen Selbstverwaltung. Sie muß sich vor allem mit den Problemen der überbevölkerten, verarmten Lager des Gaza- Streifens auseinandersetzen, wo das Abwasser in den Straßen steht. Ta'amaris Wahlkampfrede entwickelt sich zu einer Lektion über das Ausmaß der bevorstehenden Probleme. Auch hier kommt er mit seiner schlagenden Ehrlichkeit gut an. Zuhörer loben die Vergangenheit jenes Mannes, der soeben ihren Wunsch nach einem Abwassersystem geopfert hat.

Heimkehr nach Palästina: Beginn einer neuen Zeit

Auf dem Weg zurück zu seinem Wahlkampfbüro in Bethlehem schiebt sich der Jeep langsam über dunkle Landstraßen. Ta'amaris Augen wirken müde, seine Stimme hat sichtlich gelitten. Insgesamt zehnmal hat er seit Mittag in kalten Garagen und Gemeinderäumen geredet. Inzwischen geht es Mitternacht zu, und Ta'amari erzählt bei einem Stück trockenen Fladenbrot von seinen Eindrücken bei seiner Rückkehr auf palästinensischen Boden, nach fast 30 Jahren Exil. Im September 1994, einen Monat nach Arafat, überquerte er die Brücke zwischen Jordanien und dem Westjordanland. „Das war für mich der Übergang in eine neue Zeit“, erinnert er sich.

Ta'amari scheint der lebende Beweis, daß der vielzitierte Konflikt zwischen den PalästinenserInnen, die unter israelischer Besatzung gelebt haben, und jenen, die erst nach dem Grundsatzabkommen zwischen Israel und der PLO aus dem Exil zurückgekehrt sind, auch zu einer fruchtbaren Synthese führen kann. Nach seiner Rückkehr stand er vor völlig neuen Problemen. Das im Exil erlernte militärische Fachwissen war nicht mehr gefragt. Der ehemalige Kommandant begann die Jugendlichen vor Ort zu organisieren. Auf freiwilliger Basis führten sie alle möglichen Projekte in den Gemeinden aus. „Wer sich ausschließlich auf ausländische Almosen verläßt, kann leicht seine Identität verlieren“, lautet Ta'amaris Motto. Besonders stolz ist er darauf, zum Bau von Schulen und Kindergärten beigetragen zu haben. „Ich stand vor der Frage, wie die unter israelischer Besatzung angestaute Wut der Jugendlichen in konstruktive Bahnen gelenkt werden kann“, sagt er. „Wir müssen schließlich irgendwann aufhören, im Namen des Aufstands gegen die israelische Besatzung unsere eigene Gesellschaft zu zerstören.“