Ratschlag oder Zeigefinger?

■ Rußland bombt weiter, der Westen überlegt noch

Jetzt, nachdem tschetschenische Rebellen in der Türkei Geiseln genommen haben, dürfte es auch dem letzten klar geworden sein: Der Krieg im Kaukasus ist nicht als innerrussisches Problem abzutun, er droht sich auszuweiten. Nur diese Befürchtung ist es (und nicht die Opfer des Gemetzels in Tschetschenien und Dagestan), die jetzt den Westen veranlaßt, ein ganz, ganz kleines bißchen zu protestieren.

Die deutsche Regierung ist „in großer Sorge“, der französische Außenminister de Charette hat angekündigt, er wolle in Moskau mit der russischen Regierung verhandeln, Klaus Kinkel hat an die OSZE appelliert, und die SPD ließ ihren außenpolitischen Sprecher Karsten Voigt feststellen, man befreie nicht Geiseln, indem man Artillerie einsetzt – Bundeskanzler Kohl solle Präsident Jelzin doch einen „entsprechenden Rat“ geben. Vielleicht kann er ja noch mit dem Zeigefinger drohen. Boris Jelzin wird auf solche „entsprechenden Ratschläge“ gerade warten. Gestern hat der Kreml, „große Sorge“ hin, „große Sorge“ her, den entscheidenden Endschlag in Perwomaiskaja angekündigt. Und was das bedeutet, ist klar: Die russischen Truppen bomben und töten erbarmungslos weiter, bis in dem Dorf kein einziges Haus mehr steht. Und die Behauptung Moskaus, alle Geiseln seien bereits tot, dient nur dazu, einen neue Etappe dieses Vernichtungskrieges zu legitimieren. Denn jeder weiß mittlerweile: Um das Leben der Geiseln ist es Jelzin noch nie gegangen und wird es auch in Zukunft nicht.

Rußland ist entschlossen, das in seinen Augen tschetschenische Übel ein für allemal auszurotten, mit Stumpf und Stiel. Auch um den Preis unzähliger neuer Opfer, die ohnehin schon nicht mehr als Menschen betrachtet werden. Wie sagte Generalmajor Alexander Michailow auf die Frage nach der Anzahl getöteter Rebellen, mit denen sich Moskau gerne brüstet: „Wir zählen nicht ihre Leichen, wir zählen ihre Arme und Beine.“

Die tschetschenischen Rebellen haben nichts mehr zu verlieren. Und so wird eine weitere Eskalation des Konklikts immer wahrscheinlicher. Die Folgen sind nicht abzusehen. Doch wie das Drama auch ausgeht: Der Westen muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die Fähigkeit der politischen Führung Rußlands zur Konfliktregulierung und zur Demokratisierung vollkommen überschätzt zu haben. Was aber noch schwerer wiegt: Viel zu lange hat er aus Furcht vor Konflikten mit Rußland zum Tschetschenien-Drama geschwiegen. Barbara Oertel