„Wir zählen keine Leichen, nur noch Arme und Beine“

■ Russischer Sturmangriff auf tschetschenisches Kommando ohne Rücksicht auf Geiseln. Kommando entführt türkisches Schiff im Schwarzen Meer und droht mit Versenkung

Moskau/Ankara (dpa/rtr/taz) – Boris Jelzin geht über Leichen. Im Krieg gegen die tschetschenischen Geiselnehmer schießen russische Truppen Perwomaiskaja zusammen. Schwere Panzer und Kampfhubschrauber feuerten gestern auf das Dorf, Raketenwerfer kamen zum Einsatz. Opfer lagen erschossen oder verbrannt auf den Straßen. Die zynische Begründung für den „Schlußangriff“: Alle Geiseln sind längst tot. Der Sprecher des russischen Geheimdienstes, Alexander Michailow, sagte: „Wir sind sicher, daß es in Perwomaiskaja keine Geiseln mehr gibt.“ Das könnte allerdings nach drei Tagen Beschuß durch die russische Armee tatsächlich der Fall sein. Allerdings gebe es darüber „keine hundertprozentigen Informationen“, meinte ein Sprecher der russischen Spezialtruppen. Angeblich wurden die Geiseln von dem tschetschenischen Kommando ermordet. Nach russischen Angaben erlitten die Geiselnehmer gestern hohe Verluste: „Wir zählen nicht ihre Leichen, wir zählen ihre Arme und Beine“, so Geheimdienstsprecher Michailow. Das tschetschenische Kommando hatte sich mit über 100 Geiseln seit vergangenem Mittwoch in dem Dorf an der Grenze Dagestans zu Tschetschenien verschanzt. Etwa 40 Geiseln und acht Journalisten konnten dem Inferno entkommen.

Mit der Entführung eines türkischen Fährschiffes hat sich der Tschetschenien- Konflikt erstmals über die Grenzen Rußlands ausgeweitet. Tschetschenische Sympathisanten kaperten am Dienstag abend im türkischen Trabzon eine Fähre mit 199 Menschen an Bord, darunter etwa 100 russische Passagiere. Die Geiselnehmer drohten damit, das Schiff zu sprengen, falls die russische Armee ihre Angriffe gegen das tschetschenische Kommando in Dagestan nicht beende. Die angeblich 50 schwerbewaffneten Entführer – nach anderen Meldungen sollen es nur 6 sein – der „Avrasya“ lehnten Verhandlungen mit den Behörden ab. Der Anführer, ein Türke vermutlich kaukasischer Abstammung namens Mohammed Tokcan, drohte mit der Erschießung der russischen Passagiere. Später kündigte er an, einige der Geiseln zu entlassen. Tokcan erklärte, er erkenne den tschetschenischen Präsidenten Dudajew als Oberbefehlshaber an. Er und sein Kommando „Enkel des Schamil“ – benannt nach einem kaukasischen Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts – zwangen den Kapitän zur Fahrt Richtung Istanbul.

Rußland warf der Türkei vor, Warnungen vor Einsätzen tschetschenischer Rebellen mißachtet zu haben. Die türkischen Geheimdienste hätten „leichtfertig“ Informationen ignoriert, sagte eine Sprecherin des russischen Geheimdiensts SVR. Von etwa 30 entführten Angestellten eines Kraftwerks, die am Dienstag in Grosny von Unbekannten entführt worden waren, fehlte gestern jedes Lebenszeichen.

Bonn und Washington kritisierten das Vorgehen der russischen Truppen. Außenminister Kinkel forderte, bei der Militäroperation die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ zu wahren. Der Sprecher des US- Außenministeriums, Nicholas Burns, warnte vor einer Vertiefung des Konflikts. Washington betonte aber, daß Tschetschenien Teil Rußlands sei. klh Seite 9