Zu giftig zum Reinbeißen

■ Krasse Gegensätze: Während Karl Schmidt-Rottluff als großer Expressionist galt, entwickelte sich seine Schülerin Ingeborg Leuthold zur starren Hardcore-Realistin

Die Südfrucht sieht auf den ersten Blick bloß wie eine gräuliche, etwas gequetschte Freilandtomate aus. Doch der Schein trügt: Aus ihrem Fruchtfleisch läßt sich mit Schlagsahne und geschmolzener Vollmilchschokolade ein köstlicher Nachtisch bereiten. Schon ist man in Gedanken beim wunderbar zubereiteten Dessert hängengeblieben. Das Auge ißt eben mit, auch wenn man im Brücke-Museum auf nichts weiter als die schwarzweiße Zeichnung „Kakifrüchte“ von Karl Schmidt-Rottluff blickt, die der Maler in den fünfziger Jahren gefertigt hat. Seine Zeichnungen sind derzeit im Brücke-Museum zu sehen.

Um die leere Mitte des gelblich- weißen Blattes sieht man, unregelmäßig verteilt, vier solcher Früchte. Drei von ihnen überschneiden sich in einem Halbkreis, die vierte schwebt allein am oberen Bildrand. Nur wenige, unterschiedlich dicke und unruhige Pinselstriche skizzieren ihre unregelmäßig runde Form. Doch gerade diese ist neben der mit tiefschwarzen und breiten Linien gezeichneten vertrockneten Blätterkrone am Strunk das Typische der Kakifrucht. Und ihre Farbe: Kakis sind knallorange.

Der Kontrast von Schmidt- Rottluffs zurückgenommener Skizze zu dem 1,60 x 1,90 Meter gewaltigen Obst- und Gemüsestilleben seiner Schülerin Ingeborg Leuthold könnte größer kaum sein. Ihre „Bilder 1952–1995“ hängen in einer umfangreichen Retrospektive der Ladengalerie am Ku'damm, die auch den Realisten Willi Sitte vertritt. Auf einer roten Tischdecke angerichtet, stehen dort vier Körbe, die vor lauter Früchten und Schoten überquellen. Das Angebot ist üppig: weißer und roter Wein, Äpfel, Birnen, Kirschen, Feigen, Pfirsische, Orangen, Paprikaschoten, Brokkoli, Blumenkohl, Fenchel, Zwiebeln, Tomaten, Wirsing und Rotkohl. Ein Potpourri des Wohlstands, doch die Farben sind ein wenig zu leuchtend. Das schrille und blendende Orange der Kakifrüchte, hier ist es eher giftig, als wäre das Obst radioaktiv verseucht.

Zwei Bilder, ein Künstler und eine Künstlerin, er der Meister und sie seine Schülerin. Es ist wohl eher ein Zufall, daß beide zur Zeit an unterschiedlichen Orten gewürdigt werden; Schmidt-Rottluff zu seinem 20. Todestag, Ingeborg Leuthold zum 70. Geburtstag.

Leuthold war von 1950 bis 1956 Studentin an der Hochschule für Bildende Künste Berlin. Zuletzt hatte sie dort die Meisterklasse Karl Schmidt-Rottluffs besucht, der 1947 seinen Ruf als Professor an die Kunsthochschule erhalten hatte. Heute ist sie eine der wenigen noch in Berlin lebenden Schülerinnen des Expressionisten. Doch in Anbetracht ihrer so gegensätzlichen Werke kann man sich nicht einmal vorstellen, daß sich die beiden überhaupt jemals begegnet sind.

Schmidt-Rottluff, der zu Beginn dieses Jahrhunderts mit Ernst Ludwig Kirchner, Franz Beyl und Erich Heckel die Künstlergruppe „Brücke“ gegründet hatte, ist seinem einst durch die künstlerische Auseinandersetzung in eben dieser Gruppe geformten expressiven Stil stets treu geblieben. Daran hatten auch die Jahre des Naziregimes nichts ändern können, in denen er mit einem dauerhaften Ausstellungs- und Berufsverbot in Deutschland an seiner Arbeit gehindert wurde.

Fast paradox erscheint es, daß er sich in seiner Malerei gerade in dieser Zeit die farbige Leuchtkraft erhalten konnte. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren wandte sich Schmidt-Rottluff schwarzweißen und grauen Tuschpinselzeichnungen zu. 130 dieser „Schwarzblätter“, wie er sie selbst nannte, zeigt das Brücke-Museum nun erstmals aus seinem Nachlaß.

Wirken die Arbeiten der fünfziger Jahre in ihren bewegten Landschaften mit weiten Seeblicken, Kliffen und Riffs, dem einzelnen Baum als Naturausschnitt nahezu wie ein Befreiungsschlag, wie der erneute Schritt hinaus in die Welt, so kehrte Schmidt-Rottluff in den Sechzigern sein Interesse wieder verstärkt dem Stilleben zu, dem Motiv, das ihn während seiner Isolation in seiner Bilderwelt am nächsten gerückt war.

Auffälliger als die Gewichtung der Bildinhalte ist jedoch die malerische Entwicklung dieser Schwarzblätter. Unübersehbar beeinflußt von chinesischen und japanischen Tuschpinselzeichnungen entstehen zunehmend schwarzweiß gezeichnete Arbeiten, die in ihrer unmittelbaren haptischen Präsenz jegliche Farbe entbehren können, ohne dabei an Wirklichkeitsnähe zu verlieren. Ob weiß oder rot, eine Amaryllisblüte bleibt bei Schmidt-Rottluff eine Amaryllisblüte.

Von dieser natürlichen Ausdruckskraft sind Ingeborg Leutholds monumentale Ölgemläde bei aller Farbigkeit weit entfernt. So wie ihre früheren Arbeiten aus den fünfziger Jahren ihren Einfluß von Picasso und Léger nicht verschweigen, so erscheinen ihre neueren Arbeiten wie eine künstlich bizarre Mischung aus dem goldenen Zeitalter des Stillebens im 17. Jahrhundert und einer Art Neosurrealismus à la Dali. Für ihre Gruppenbilder von Punks, Rockern, Prostituierten und neuerdings von landwirtschaftlichen Erzeugnissen jeglicher Art wäre Hardcore-Realismus vermutlich die passende Bezeichnung.

Ihre Mädels vom „Babystrich“ haben daher auch nichts mehr gemeinsam mit den eleganten Rotlichtmiezen vom Potsdamer Platz eines Kirchners oder den krassen Milieurealsatiren eines Otto Dix. Leuthold zitiert dennoch diese und andere Bilder aus der Kunstgeschichte und betreibt dabei eine Malerei um der Malerei willen, die so künstlich erstarrt und sachlich ist, daß am Ende die Frage offenbleibt, was sie eigentlich bei Schmidt-Rottluff gelernt bzw. was er ihr eigentlich gelehrt haben könnte. Die Fähigkeit, hinter den Dingen Kunst zu erblicken, wohl kaum. Petra Welzel

Karl Schmidt-Rottluffs Tuschpinselzeichnungen sind bis zum 14.4. im Brücke-Museum zu sehen. Bussardsteig 9, 14195 Dahlem, täglich 11–17 Uhr, Di. geschlossen.

Ingeborg Leutholds Gemälde sind noch bis zum 30.1. in der Ladengalerie ausgestellt. Kurfürstendamm 64, 10707 Berlin, Mo.–Fr. 10–18.30, Sa. 10–14, langer Samstag 10–18 Uhr.