: Logisch: Ein Tänzer - zwei, drei, vier
■ Das von Jonkers/Linkens geleitete Tanzensemble der Komischen Oper zeigt sich in "Au-dela" endlich verwandelt
Tanzpremiere an der Komischen Oper? Meine Freundin winkt ab. Die Zeiten, als sie begeistert mit in das Haus in der Behrenstraße stürmte, gehören der Vergangenheit an. Vor eineinhalb Jahren war alles ganz anders. Damals übernahmen die beiden Niederländer Marc Jonkers und Jan Linkens die Leitung des Tanzensembles und kündigten eine radikale Modernisierung der tänzerischen Ästhetik an. Wir waren begeistert, zumal die beiden neuen Chefs sich nicht mit west-imperialistischem Gestus auf das traditionsreiche Ost-Haus stürzten, sondern langsam und behutsam neue Wege suchen wollten.
Wir fanden es also durchaus richtig, Tom Schilling zunächst weiter auf dem Spielplan zu finden. Aber daß auch die Uraufführungen der vergangenen anderthalb Spielzeiten ganz der Tradition des Hauses entsprachen, enttäuschte uns dann doch. Nun, da meine Freundin mich schon lange nicht mehr begleitet, ist es – still und unspektakulär – endlich passiert. Bereits zehn Minuten nachdem sich am Sonntag abend der Vorhang zur Uraufführung von „Au-delà“, einem Tanzstück des französischen Choreographen François Raffinot, hob, war klar: ab heute gibt es in der Komischen Oper modernen Tanz auf höchstem Niveau (und meine Freundin muß jetzt eine Karte kaufen).
Das erste Ereignis des Abends war die Metamorphose des Ensembles. Alles Pathos und jegliche cheese-lächelnde Ballettattitüde sind verschwunden. Das Tanzverständnis Raffinots geht nicht davon aus, daß Tänzer durch Bewegung Gefühle ausdrücken, sondern, im Gegenteil: die Tänzer sollen sich von der Bewegung durchdringen lassen – der Tanz als eigenständige Sprache, die nur durch Bewegung spricht. In „Au-delà“ sind Blicke nicht Ausdruck von Liebe und Fußtritte nicht von Brutalität, sondern gefühlsfreie Impulsgeber. Der Tanz, vielleicht, als physikalische Versuchsanordnung. Das Stück selbst ist das zweite große Ereignis des Abends: eine wunderschöne, geheimnisvoll-verrätselte Meditation über das „Jenseits“, über Sterben und Tod. Raffinot hat sechs Stücke des 1988 gestorbenen Komponisten Giacinto Scelsi – ein Außenseiter der italienischen Neuen Musik – choreographiert. Auch wenn dessen Stücke ursprünglich nicht für den Tanz geschrieben wurden: selten hat man erlebt, daß Musik und Tanz sich in einem solchen Spannungsfeld bewegen, sich unentwegt zu verstärken scheinen.
Dies gibt „Au-delà“ seine rätselhafte Kraft. Zu Beginn scheint alles ganz logisch aufgebaut. Die leere Bühne ist in einen hellen und einen dunklen Raum unterteilt. Ein Tänzer – zwei, drei, vier. Vier Männer und vier Frauen sind jeweils abwechselnd zu sehen. Immer ist etwas an- oder abwesend und durch ständigen Wechsel gewissermaßen gleichzeitig präsent. Doch das Geschehen wird zunehmend komplexer. Abstrakte Bilder der Malerin Agnès Lévy erscheinen an den Seiten und der Bühnenrückwand und verschwinden wieder.
Scelsis Musik, die mit einem Solostück für Gitarre begann, schwillt zu Orchesterstücken an. Immer mehr Tänzer erscheinen in wechselnden Konstellationen auf der Bühne. Man meint immer noch logische Regeln am Werk zu sehen, aber solche, die wild wuchern, undurchschaubar sind. Fragen der Kausalität (was ist Impuls?) scheinen doch wieder aufgehoben, und man kann nur verwundert zuschauen. Michaela Schlagenwerth
Weitere Aufführungen am 24. und 30.1., 20 Uhr, Komische Oper, Behrenstraße 55–57, Mitte
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