: Märchenhafte Reise an die Grenze der Ratio
■ Eine dritte Premiere komplettiert die Frühjahrskollektion des carrousel Theaters
„Oma ist jetzt überall, auch im Kopf.“ Dieser Satz eines Siebenjährigen steht im Foyer des carrousel Theaters, neben anderen Kommentaren und Zeichnungen zum Thema Tod. Die Bilder sind kunterbunt, mit Vögeln und Palmen. Kinder haben eine deutliche Vorstellung von der „anderen Welt“, neugierig und unverkrampft. Die Tabuisierung des Sterbens geht von den Erwachsenen aus.
„Die Reise nach Ugri-La-Brek“ des Schweden Thomas Tidholm, vom Autor selbst nach seiner 1994 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichneten Erzählung dramatisiert, will eine Auseinandersetzung in Gang bringen. Das klappt – soviel vorneweg – trefflich. Wie das sein könnte mit dem Tod, darum drehen sich die Gespräche in der Pause zuhauf. Tidholm – und der Regisseur Peter Dehler – packen ihr Vorhaben dramaturgisch geschickt ein: ihre Geschichte beginnt woanders. Einen Opa haben Ameise (Vera Kreyer) und ihr Bruder (Yüksel Yolcu) nie gehabt. Selbst die Mutter (Birgit Berthold) erkennt den eigenen Vater kaum noch, als er nach Jahrzehnten der Abwesenheit plötzlich vor der Tür steht. Für die Kinder ist der kauzige Alte ein Fest. Er steckt voller phantastischer Geschichten – ein liebevoll verrückter Traumopa. Rüdiger Sander spielt ihn als exzentrische, aber nicht lächerliche Person.
Ein leichter, witziger Einstieg. Doch eines Tages ist der Opa nicht mehr da. Er ist gestorben, aber das trauen sich die Eltern nicht zu sagen. Der Junge mutmaßt eine Entführung, und mit Schlitten und in Begleitung ihres Hundes Quatsch machen sich die Geschwister auf die Suche. Eine Reise an die Grenze der Ratio. In einem märchenhaften Jenseits finden sie ihren Großvater – als Kapitän eines Piratenschiffs. Zurückkehren wird er nie wieder, aber besuchen können sie ihn, wann immer sie wollen. Kraft ihrer Erinnerung.
Ein wunderschön sinnliche Metapher. Mittler zwischen den Welten ist Quatsch. Von Anfang an ist dieser Menschenhund omnipräsent. Eine stumme Mischung aus Master of ceremony und freundschaftlichem Begleiter. Erst in der Anderen Welt beginnt er zu sprechen. Sebastian Kautz – die Socken baumelnd über die Ohren gestülpt – gibt ihm mit trockener Poesie Gestalt. Ein starker Kommentator, fernab jedes kindertümelnden Wauwau-Klischees. Untermalt mit einer filmisch handlungsbegleitenden, bisweilen recht gefühligen Musik (Thomas Schmidt), ist diese Reise zu den Grenzen des Faßbaren für die kindliche Klientel ebenso nachvollziehbar wie offen für eigene Phantasien.
Von 6 bis 16 Jahren – mit drei Premieren in einer Woche präsentierte das carrousel Theater die Frühjahrskollektion für fast die gesamte Zielgruppe. Ein gelungener Start ins neue Jahr. Das zufällige Zusammentreffen verschiedener Menschen mit ihren Lebensgeschichten und Kulturen („vor.zurück.zur Seite.RAUS“), die spielerische Auseinandersetzung mit Erwachsenenverhalten („Wer hat meinen kleinen Jungen gesehen“), der Umgang mit dem Tod – alle drei Produktionen verhandeln übergreifende Themen mit assoziativen oder phantastischen Mitteln. Das Team um den Intendanten Manuel Schöbel schafft damit ein Gegengewicht zum klassisch emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheater, das im Gripstheater nach wie vor am besten aufgehoben ist. Es sei allerdings dahingestellt, ob man sich für Formexperimente unbedingt desselben Regisseurs (Herman Vinck mit „Vor.zurück...“) bedienen muß, der die gleiche Aufgabe schon im Grips (erfolgreich) anging.
Nach der schwierigen Nachwendephase hat Deutschlands größtes Kinder- und Jugendtheater mittlerweile einen breiten Querschnitt an aktuellen Formen und Inhalten im Programm. Im Jugendbereich hat Schöbel keine so glückliche Hand. Seit Peter Schroth nicht mehr Chefregisseur ist, scheint man sich zumindest von dem Konzept der Stadttheaterkopie verabschiedet zu haben. Tabori und Fo brauchen in Berlin nun wahrlich nicht auch noch ein Vorstadtforum in Lichtenberg. Trotzdem diese Kröpfe langsam aus dem Spielplan verschwinden, setzt das carrousel im Jugendbereich immer noch stark auf neue Klassiker. Mit gemischten Ergebnissen. Während Plenzdorfs angejahrtes Goethe- Revival „Die neuen Leiden des jungen W.“ dank der musikalischen Bearbeitung den Nerv junger Zuschauer trifft, ist die dröge Ausgrabung des Heimkehrerdramas „Draußen vor der Tür“ wohl eher eine Freude für begleitende Deutschlehrer.
Der Ansatz muß über die betuliche Bildungsbürgerlichkeit einer Aufklärungsanstalt hinausgehen, will man Jugendlichen – dem zugegebenermaßen schwierigsten Publikum – Lust auf Theater machen. Mit Ad de Bont, Beat Fäh und Magnus Dahlström tummeln sich im carrousel zwar auch wichtige neue Autoren, aber häufig würden mehr Mut und weniger Moral keinesfalls schaden. Gerd Hartmann
„Die Reise nach Ugri-La-Brek“, wieder am 28.1., 15 Uhr, 29.1., 10 Uhr, carrousel Theater, Hans-Rodenberg-Platz 1, Lichtenberg
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