Ich oder keiner!

■ Frauen, die kein Leben haben dürfen, und Männer, die Frauen mit sich ins Grab reißen müssen: Udo Samels gelungene Regiepremiere mit "Wozzek" in Weimar

Im Berufsverkehr steigen viele Leute in die Nr. 6, die an der Rückseite des Nationaltheaters hält und nach Buchenwald fährt. Die linke Vorplatzseite ist grell ausgeleuchtet für die Tag- und Nachtbaustelle der „Konsumgesellschaft Weimar e.G.“, die hier ein Einkaufszentrum errichtet; am Rand der Grube stehen klamm und zugig die leeren Bürgerhäuser und kleinen Adelspalais. Und vor dem Eingang schließlich Wolfgang und Friedrich in klassischer Männerfreundschaft. Wären je zwei Frauen so als Denkmal vorzustellen, müßten sie schon Schwestern und preußische Prinzessinnen sein ...

Im Weimarer Nationaltheater hat Udo Samel, ja, der Schaubühnen-Schauspieler, seine erste Opernregie mit großem Erfolg präsentiert: „Wozzek“, die Geschichte des Mörders, der Täter und Opfer ist, der herumgestoßen wird und mißverstanden, der verwirrt ins Wasser geht und zuvor sein Liebstes umbringt, Marie, die Schöne. Das Stück, das der Oper als Libretto zugrunde liegt, hat Georg Büchner nach einem historischen Kriminalfall geschrieben. Der Friseur Woyzeck brachte seiner Geliebten mit einer abgebrochenen Degenklinge „sieben Wunden bei, an denen sie nach wenigen Minuten ihren Geist aufgab“. Büchner, der selbst ja Arzt war, griff mit diesem Stück in die Debatte um Verbrechen und Wahnsinn, soziale und mentale Ursachen von Mord und Selbstmord ein. Er beschrieb die Geschichte Woyzecks in einer spröden, reduktionistischen Sprache, voller Mitgefühl für jede Mißachtung und Demütigung – eine Form und ein Anliegen, dessen sich der Expressionismus unseres Jahrhunderts kongenial annahm. 1925 fand die Uraufführung des „Wozzek“ von Alban Berg, dem Schönberg-Schüler, in der Berliner Staatsoper statt.

In der Weimarer Aufführung setzt Samel auf das kleine Elend, die unterschwellige Verletzung, die nicht minder große Schmerzen zeitigt. Die Grundform der Bühne, eine Schräge, in die Gräben, Kanäle geschnitten sind, Abgründe, vor denen man sich fürchten oder aber an deren Rand man gemütlich mit den Beinen baumeln kann, diese Schräge wird jeweils in fast minimalistischen Bildern variiert: ein Spiegel für den Hauptmann, den Wozzek rasieren muß und der ihn seine gute Laune spüren läßt: „Er sieht immer so verhetzt aus – ein guter Mensch tut alles langsam!“ Ein kleines schornsteingroßes Zimmer für Marie und ihr Kind – „Lieber ein Messer in den Leib als eine Hand auf mich!“, oder das Podest, unter das der eifersüchtige Wozzek kriecht und auf dem in schwitzendem Tanzvergnügen Marie mit dem Tambourmajor, dem Verführer mit mächtigem rotem Federputz, zu sehen ist.

Mario Hoff spielte den Wozzek in anrührender Empfindlichkeit, Yvonn Füssel-Harris war die widerspenstige und intensive Marie. Die Sänger fast durchgehend in weichem, klaren Melos, wie überhaupt die Aufführung musikalisch ebenso hervorragend gelang. Unter Lothar Zagrosek zeigte die Weimarer Staatskapelle den so filigranen Charakter der Musik von Alban Berg, manches Mal ganz kammermusikalisch, flirrend und fein, aber auch groß bei den Trompeten des Jüngsten Gerichts. „Wozzek“ ist in dieser Inszenierung eine leise schmerzende Erfahrung. Auch die Aufklärung ist kein Triumph mehr. Die Männer richten Frauen und reißen sie mit sich in den Tod – wenn du nicht mit mir, dann auch mit niemand anderem. Und Frauen dürfen die schöne Leiche sein, wenn sie die Dreistigkeit besitzen, am Leben teilnehmen zu wollen.

Die Oper „Wozzek“ endet musikalisch mit einer abrupten Unterbrechung, einem Hängenbleiben des Themas, einer Ratlosigkeit. Die schlauen Rezepte der schnellen Auflösungen und Erklärungen greifen nicht mehr. Sabine Zurmühl

Nationaltheater Weimar: „Wozzek“ von Alban Berg in der Inszenierung von Udo Samel. Nächste Vorstellungen: 21. Januar, 2. und 21. Februar