Human gemeintes Kleinklein

■ Verlust der Mitte auch in der Gefängnisarchitektur: Startbahnlange Flure oder kurze Zellenreihen? Ein Buch zum Thema fragt, ob Schließer zu Pädagogen werden

Angenommen, das Ornament ist ein Verbrechen, dann sind Knastbaumeister seit jeher gute Staatsbürger gewesen. Auch der nun vorliegende, aufwendig verlegte Band „The Architecture of Incarceration“, eine konkurrenzlose Publikation über zeitgenössische Tendenzen in der Gefängnisarchitektur, läßt derlei schließen. Vorgestellt werden vierundzwanzig Haftanstalten, die seit Mitte der 80er Jahre in den USA, Kanada, Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Frankreich entstanden sind.

Eine durchaus repräsentative Auswahl. Das Buch, herausgegeben von Iona Spens, spannt den Bogen in die Historie, zeichnet die architektonischen Setzungen unterschiedlicher Vollzugsformen nach und läßt schließlich renommierte zeitgenössische Architekten selbst zu Wort kommen: Fredric Price, Ian Ritchie, Kisho Kurokawa.

Kurokawa etwa sieht die wesentlichen typologischen Neuerungen durch einen „collapse of the centre“ hervorgerufen: Auf das Zeitalter der zentralisierten Überwachung sei ein Zeitalter gefolgt, das mittels individueller Zentren kontrolliere. Die seit den 70er Jahren in den USA entstehenden Bauten der „new generation“ setzen sich aus weitgehend autonom besorgten, dreieckigen Einheiten zusammen, mit kurzen Zellenreihen, die, zweigeschossig gestapelt, einen multifunktionalen Raum rahmen. Die Bewacher sind den zu Bewachenden integriert.

Der Schließer, vermutet Iona Spens, könne so zum Pädagogen mutieren. Und die überschaubar gegliederten Architekturen, sie bereiteten auf ein Leben nach der Strafe vor, indem sie Gemeinschaft trainieren ließen. Noch sei man geteilter Meinung, schreibt jedoch Leslie Fairweather in einem Beitrag, inwiefern die „new generation“ als erfolgreich zu betrachten sei: „Practice has not always reflected theory.“ Vor allem die engen Kontakte zwischen Häftlingen und Personal seien es, deren Sicherheitsaspekte diskutiert würden. Zudem gelte ein solcher Vollzug als personal-, das heißt kostenträchtig.

Ein neuartiges Finanzierungsmodell, in den USA zwar etabliert, gleichwohl noch kaum verbreitet, verspricht hier, Geldsorgen aus der Welt zu schaffen: „DCMF (Design, Construction, Management, Financing)“ – der Justizvollzug wird privatisiert, wird Objekt der Investorenbegierde. Ein Prozent der US-amerikanischen Gefängnisse werden bereits von nicht- staatlichen Stellen betrieben, und der Marktführer, die „Correction Corporation of America“, leistet Aufbauhilfe in Großbritannien. Inwieweit die Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft sich auf den Strafvollzug auswirken, darüber wünschte man sich in dem Buch weiterreichende Überlegungen, vergleichbar etwa jenen, die Thomas A. Markus in entgegengesetzter, retrospektiver Richtung über die geschichtliche Entwicklung von Haftbauten ausführt.

Interessant, was er zur Positionierungsstrategie von mittelalterlichen Kerkern zu sagen hat: Sechs der acht alten Stadttore Londons beinhalteten Gefängnisse. Denn, so Markus: Stadtmauern markierten die Grenze zwischen Kultur und Natur. So waren Siedlungsgründungen, bei denen bisweilen Ochsengespanne Furchen entlang der geplanten Mauer zogen, ein Akt der Götterprovokation. Das Ritual war vollbracht, als die Ochsen den versöhnlich zu stimmenden Göttern geopfert wurden – an eben jener Stelle, wo ein städtisches Forum entstehen sollte. Die Gründung war eine Art Diebstahl göttlicher Natur, das Tor ein gefährlicher ambiguer Ort, an dem räumliche und soziale Kategorien zusammenbrachen: Was ist das Eigene, was das Fremde? Nur naheliegend also, wenn ein Stadttor, diese „Metapher für Unreinheit und Kontamination“ (Markus), als Wohnstatt für Outlaws diente.

Mit der Aufklärung brach für die Strafjustiz ein neues Zeitalter an. War das Gefängnis bis dahin ein Verwahrungsort für Kleinkriminelle oder ein Kerker (bis zur öffentlichen Marter) gewesen, so entdeckte man nach und nach den Menschen im Verbrecher, sah Chancen auf „Heilung“ und Besserung. Die Haftstrafen wurden zur Regel, die Knäste größer. Eine Übermacht, die den Körper besiegt hatte, wich der „Mikrophysik der Macht“ (Foucault), welche die Seele meistert. Nur das grobe Fassadenschauspiel vieler Gefängnisse übernahm die Abschreckungsfunktion des Marterrituals. Die Reformen jener Jahre: Anwendung von „Besserungstechniken“ (Foucault), ordnende Architekturen, Transparenz statt meterdicker Wände, sie hielten an, wurden im „panopticon“ des Jeremy Bentham aufs fragwürdigste perfektioniert, wurden im 19. Jahrhundert in den Strahlenplanbauten Englands (Pentonville) und Preußens (Moabit) ökonomisiert.

Im Grunde sind diese Neuerungen bis heute fortgeschrieben worden. Der Strafvollzug des 20. Jahrhunderts hat durch die Etablierung elektronischer Überwachungssysteme eine noch weitergehende Fokussierung erfahren. Vom panoramatischen Panoptismus Benthams über die panoptischen Flure des 19. Jahrhunderts zum Panoptismus der Videokameras: Überwacht wird heute durch ein elektronisch generiertes Geflecht sich kreuzender Blicke. Die Architektur scheint entlastet, gebaute Blickführungen bereitzuhalten. Dem „collapse of the centre“ korrespondiert eine Krise der Linearität. Startbahnlange Flure werden nur noch selten projektiert, statt dessen: allerorten ein human gemeintes Kleinklein sich wiederholender Dreiecksformen.

Das geschmäcklerische Vorwort Stephen Tunims verrät viel von der Problematik dieses Bandes: Der oberste Gefängnisdirektor Großbritanniens, offensichtlich ein Knast-Connaisseur, informiert die Leserschaft über seinen „Appetit“ auf diese Architektur. Die Publikation betrachte er als einen „Nachtisch“ auf vorangegangene Veröffentlichungen. Es ist wohl diese mangelnde Distanz zum Thema, dieser Glaube an die Institution, welcher das Buch zum richtigen im falschen Kontext macht. Kein Wort zur Delinquenzproduktion in Justizvollzugsanstalten.

Dennoch, jeder publizistische Beitrag ist zu begrüßen, denn wie kein zweiter Bautypus verkörpert das Gefängnis die Abstraktionen der ihm zugrundeliegenden Sozialtheorien und -ideologien. Allein, lesen muß man zuweilen zwischen den Zeilen. Stephan Trüby

„The Architecture of Incarceration“. In Englisch, 128 Seiten, Ernst & Sohn Verlag, Berlin, 98DM