„Die Menschen sprangen aus den Fenstern“

■ Hausbewohner und Feuerwehrleute waren Augenzeuge der Verzweiflung

Zwei Afrikanerinnen schlagen weinend die Hände über dem Kopf zusammen. Über eine Leiter tragen Feuerwehrleute Leichen aus dem zweiten Stock des ausgebrannten Hauses am Lübecker Hafen. Die Toten werden anschließend mit grauen Plastikplanen bedeckt.

Bei der schlimmsten Brandnacht der letzten Jahre in Lübeck sterben am Donnerstag früh nach Polizeiangaben mindestens neun Menschen, 55 Personen werden zum Teil schwer verletzt. War es ein Anschlag auf Ausländer oder ein Brandunglück? Das bleibt zunächst offen. Die Polizei nimmt Ermittlungen wegen Mordes und schwerer Brandstiftung auf.

Vor dem vierstöckigen Haus, in dem nach den Angaben der Behörden 45 Aussiedler und Asylbewerber wohnten, wimmelt es nur so von Feuerwehrleuten und Notärzten. Trauernde, verzweifelte Angehörige von Opfern stehen davor. Ein Leiterwagen liegt umgestürzt am Boden. Aus dem Dachstuhl des hell getünchten Hauses qualmt es noch. Verkohlte Satellitenschüsseln hängen an den Fenstern, die Fassade hat überall schwarze Brandmale. In einem eigens errichteten Zelt vor dem Haus werden die Toten in Zinksärge gelegt.

„Das ist schlimmer als Mölln oder Solingen“, sagt ein Schaulustiger. Dort fanden die bislang schwersten Brandanschläge auf Ausländer statt. In unmittelbarer Nähe des Hauses stehen rund 30 Schwarzafrikaner. Ein Angolaner, der seinen Namen nicht nennen will, erzählt, im Obergeschoß befänden sich noch eine Frau und sechs Kinder. Wie das Feuer ausgebrochen ist, weiß niemand genau. Ein Feuerwehrmann berichtet, die Flammen seien zunächst im ersten Stock hochgeschlagen und hätten sich dann „ungewöhnlich schnell ausgebreitet“.

„Die Menschen sprangen aus den Fenstern, schon bevor wir richtig hier waren“, sagt ein Feuerwehrmann, der schon in der Nacht zum Brandort gekommen war. Auch Hausbewohner Joao Bunga Diaucesumuco erzählt: „Ich habe gesehen, wie Leute aus den Fenstern gesprungen sind.“ Seine Frau habe sich ebenfalls in die Tiefe gestürzt und sei gestorben. Er habe das Feuer frühzeitig entdeckt, als er gegen drei Uhr nach Hause gekommen sei, fügt der Angolaner hinzu.

Die Haustür des Heimes stehe immer offen, erzählt bitter klagend ein anderer Angolaner. Deshalb habe man in der Vergangenheit öfters Angst gehabt. Ein Mann aus Zaire, der nicht genannt werden will, meint: „Wir haben politische Probleme in unserer Heimat, jetzt haben wir auch in Deutschland keine Ruhe. Wenn sie [die Deutschen] Leute in ihr Land lassen, warum geben sie ihnen nicht die Freiheit, hier zu leben?“ klagt der Mann. Erst vor einer Woche habe eine Familie um eine andere Bleibe gebeten, denn sie habe Angst um ihre Sicherheit gehabt. Doch ein neues Heim sei ihr nicht zugewiesen worden.

Während Feuerwehrmänner die letzten Flammen im Dach bekämpfen, warten unten zwei Inspektoren des örtlichen Gaswerks auf ihre Erlaubnis, in das Gebäude zu gehen. Sie wollen das Gas abstellen ... Michael Brendel (rtr), Lübeck