Der letzte Kapitän vom Aralsee

Sergej, der Hafenkapitän von Muinak, erinnert sich wehmütig an die Zeit vor dem Öko-Desaster. Bevor der See in Usbekistan austrocknete, lebten viele Menschen vom Fischfang  ■ Von François d' Alançon

Das wäre schön, wenn der See da wäre.“ Die Worte entweichen wie ein Schrei. Bakauschin Sergej Lipatowitsch richtet seinen Blick starr in die Ferne. Er steht da, vor dem Denkmal der Toten, das den ehemaligen Fischereihafen Muynak beherrscht, und sagt gar nichts mehr. Der Wind jagt in Böen auf die Dünen nieder, die sich bis zum Horizont angehäuft haben. Unerbittlich bringt die Sonne die Salzflecken zum Glänzen. Früher war hier der See. Die Wellen umschmeichelten den Fluß der Steilküste. Muinak war eine Insel gewesen, später eine Halbinsel und dann gar nichts mehr. Der See ist verschwunden, aber er hat überall seinen Abdruck hinterlassen, sandige Bodenwellen schlängeln sich gen Osten, ein unermeßliches Watt aus Sand, mit Morast versetzt.

Sergej erinnert sich. Hier hat er 1942 im Alter von zehn Jahren seine Pionierfahrt gemacht. Seit dem Tag, an dem er an den Ufern des Flusses Amu Darja geboren wurde, war der Aralsee sein Abenteuer. Er hat ihm alles gegeben: seinen Beruf, seine Nahrung, seinen Status, seine Daseinsberechtigung. Der See zeigte sich großzügig. Für die Kolchosenfischer war er Manna. Im Jahre 1921 hatte Lenin sie dazu aufgerufen, ihren Fisch an die hungerleidende russische Bevölkerung zu liefern.

„Da, wo das Wasser endet, endet die Erde“, besagt ein lokales Sprichwort. Es ist schon alles gesagt worden über das „stille Tschernobyl“ des Aralsees. Dreißig Jahre Planerfüllung, der rasend vorangetriebene Ausbau der Baumwollmonokulturen, die Umleitung zweier Flüsse, die den See speisten, zu Bewässerungszwecken, all das hat schließlich zu dem Deaster geführt: gegenüber 1960 eine Halbierung der Oberfläche und eine Verringerung des Wasservolumens um drei Viertel. Der Salzgehalt verdreifachte sich dagegen, die Delta verwandelten sich in brackige Sümpfe. Und das ist noch nicht alles. Die mit Karbonaten, Sulfaten, Entlaubungsmitteln, Insektiziden und anderen Pestiziden für die Bedürfnisse der Agrarindustrie vollgepumpten Böden haben das Wasser der Flüsse kontaminiert. die Umweltverschmutzung hat das Grundwasser so stark verseucht, daß es als Trinkwasser nicht mehr geeignet ist.

Wenn der Wind über die ausgetrockneten Ufer bläst, erheben sich Salzwirbel. 75 Millionen Quadratkilometer salziger Staub verlagern sich jährlich und verbrennen die Vegetation über Hunderte von Kilometern. Die Veränderung des Klimas zeigt sich in den gestiegenen Temperaturunterschieden zwischen Sommer und Winter. Anämie, Kindersterblichkeit, Epidemien und Krankheiten aller Arten: Die Experten der Weltbank und der UNO verwendeten für die Seiten ihrer Berichte viel Druckerschwärze, um eine Bestandsaufnahme der Katastrophe vorzunehmen. Millionen von Dollar seien freigegeben worden, so sagt man, um „das Ökosystem zu stabilisieren“.

Der See zog sich zurück, der Fisch fehlte

Für Sergej aber, den letzten Zeugen, ist die Erinnerung unbezahlbar. Sergej erzählt mit Leidenschaft von seinem See – als wäre es gestern. Das Jahr 1972 brachte das erste Warnsignal: eines Tages konnten die Boote nicht mehr bis nach Muinak hinauffahren, und die Fischer griffen zum Spaten. Dreimal hoben sie eine Fahrrinne aus, um wieder Wasser unter den Kiel ihrer Boote zu bekommen. Dreimal schachteten sie einen Hafen aus, bis zu zwanzig Kilometer von der Küste entfernt. 1979 sahen sie ein, daß alles zwecklos war. Der See zog sich zurück, der Fisch fehlte. Mehrere Jahre noch organisierten sie eine Streifenwache rund um ihre Boote, fetteten die Motoren ein und versorgten die Rümpfe mit frischer Farbe. Im Frühjahr 1982 gaben sie dann auf. „Wir haben einen letzten Versuch unternommen und 300 Netze ausgeworfen. Fast gar nichts haben wir eingeholt.“ Die Nachricht wurde nach Nukus, Taschkent und Moskau weitergegeben, und dann beschlossen sie, aufzuhören. Hinter Sergej sieht man den See flimmern. Das Foto stammt aus den sechziger Jahren, als die Aralseefischer jährlich 45.000 Tonnen Fisch sowie 10 Prozent des Kaviars der UdSSR produzierten. Das Foto befindet sich im Museum von Uchsay, einem öden Gebäude mit Blick auf die frühere Bucht.

„Als ich Hafenkapitän wurde, begann der See sich zurückzuziehen. Ich hatte die Verantwortung für die gesamte Trawlerflotte. Im Winter hatten wir minus 30, im Sommer plus 40 Grad. Vom 20. November bis zum 15. Mai ruhte der Fischfang. Wir fischten mit Schlitten auf dem Eis. Wir arbeiteten an jedem Tag des Jahres und bekamen alle drei Jahre Urlaub. Die Planziele mußten eingehalten werden“, erinnert sich Sergej. Heute hat er eine Stelle in der Konservenfabrik, die nur an einem von zwei Tagen gefrorenen Fisch der Ostsee oder des Pazifik verarbeitet. Aber sein Herz hängt nicht daran.

Mit 61 Jahren denkt Sergej ans Aufhören. Er bewahrt seine kostbaren Trophäen, die Seekarten, den Nippes in Form von Ankern und Booten. Auch ein Foto, das ihn als Matrose während seines Militärdienstes auf der Krim am Schwarzen Meer zeigt. Schließlich Lenin- und Stalin-Porträts, Familienalben und eine Ikone. Aus seinem sauberen, blanken Fischerhäuschen möchte er ein Museum, ein Denkmal machen, eine Unterkunft für all diejenigen, die hierherkommen, auf den Spuren des verflossenen Sees.

Der Aralsee ist tot, der Kommunismus vorbei

Doppelte Nostalgie: Der Aralsee ist tot und der sowjetische Kommunismus verschwunden. Sergej hat eine eigene Erklärung dafür. Er leugnet nicht seine Vergangenheit, als er Parteimitglied war. „Das war absolut nötig, wenn man Leiter werden wollte. Die Baumwolle war wichtiger als der Fisch des Aralsees. Breschnew wollte die Produktion ankurbeln. Die Leute, die Bescheid wußten, hätten es ihm sagen müssen, aber sie hatten Angst vor ihm.“ Die Breschnew- Jahre! Sergej spricht von goldenen Zeiten, als „wir alles hatten, Wodka, Zucker und Mehl. Die Geschäfte waren voll. Wir wollten den Kommunismus aufbauen. Es war klar: wir hatten unser eigenes System, jeder wußte, was er zu machen hatte und wie er es zu machen hatte. Die Leute waren zufrieden. Das Leben war gut, aber Gorbatschow ist Gorbatschow!“

Sergej wird seine Tage vielleicht an den Ufern irgendeines Sees oder Flusses in Rußland beschließen, in der Nähe seiner Tochter und seiner Enkel. Bis dahin bleibt er hier, an den Ufern seines toten Sees, stolz auf seine Geschichte und sein Wachen, ein Kapitän ohne Flotte, ein Ausguck der hohen See beraubt.

Übersetzung: Astrid Reich