Keine neue Bildung im Netz

Studie aus England zeigt, daß mehr Kommunikationsmöglichkeiten nicht zu mehr Demokratie führen. Gebildete werden noch schlauer  ■ Von Frank Nürnberger

„Fahren wir tatsächlich auf der Überholspur des Information Superhighway einer demokratischeren Gesellschaft entgegen? Oder kommen uns dort Kinderpornographie und Kreditkartenbetrug als Geisterfahrer in die Quere und bringen uns von der Bahn ab?“ Der Medienwissenschaftler Frank Nürnberger ging dieser Frage an der University of Sussex nach. Er untersuchte politische Kommunikation im Internet am Beispiel einer Newsgroup zu britischer Politik. Der Autor arbeitet bei einer PR- Agentur in Berlin.

Die Newsgroups im Internet sind die elektronische Version der guten alten Schwarzen Bretter. Zu inzwischen über 13.000 unterschiedlichen Themen wird diskutiert. Inhaltlich reicht das Spektrum von technischem Fachpalaver über Technikspielzeug (alt. toy.hightech) über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Elvis-Sichtungen (alt.elvis. sighting) bis hin zu den Höhen und Tiefen des deutschen Kulturraums (soc.culture.german). Eine dieser Newsgroups heißt „uk.politics“, in der die Teilnehmer über britische Politik diskutieren.

Im Internet reden vor allem junge Männer

Eine E-Mail-Befragung bei den Teilnehmern bestätigte das von den Medien kolportierte Bild vom typischen Internet-Benutzer: Er ist zwischen 25 und 35 Jahre alt, männlich und besitzt einen höheren Bildungsabschluß. Als Student oder wissenschaftlicher Mitarbeiter ist er einer universitären Einrichtung verbunden, oder er arbeitet in einer Computerfirma. Daß kaum Selbständige oder nichttechnische Angestellte und überhaupt keine Handwerker oder Hausfrauen in diesem Medium partizipieren, zeichnet den Verbreitungsweg des Mediums nach: Trotz jüngerer Versuche, das Medium weiteren Kreisen zugänglich zu machen, kommen die meisten Anwender aus den Institutionen, die zuerst im Internet waren.

Doch worüber diskutieren die Teilnehmer? Um den Einfluß des Internet auf die Themenauswahl zu untersuchen, wurde ein Vergleich mit der aktuellen britischen Tagespresse und den Hauptabendnachrichten der BBC vorgenommen: Die politische Internet-Diskussion hielt sich weitgehend an die thematische Vorgabe der Massenmedien. Prägnanter zeigte sich aber, daß die „weichen“, allgemein menschlichen Themen am heftigsten diskutiert wurden.

Viele Diskussionsteilnehmer konnten und wollten ihr Scherflein beitragen zu Themen wie „Homosexualität und wie man sich dazu verhalte“, „Tierschutz und -rechte“ sowie „Rassismus im allgemeinen“. Auch regen Zuspruch fand die ewige Grundsatzdiskussion „Sozialismus vs. Kapitalismus“; kurzum Bauchthemen, bei denen sich minimales Fachwissen leicht in maximalen Wortausstoß verwandeln läßt.

Im Gegensatz dazu fanden sich absolute Top News der Massenmedien wie die Privatisierung der britischen Wasser- und Elektrizitätswerke überhaupt nicht in der Diskussion wieder. Dennoch wirkt das Medium nicht prinzipiell inhaltsabsorbierend: Von 1.821 in zehn Tagen an die Newsgroup geschickten Wortbeiträgen stammten 97 Beiträge von einem einzigen Autor. Dieser Autor ist eine Koryphähe auf dem Gebiet Wahlen, Wahlrecht und Wahlkreisänderungen. Um seine Beiträge bildete sich bisweilen eine regelrechte Fachdiskussion, die etwa die Feinheiten walisischer Wahlkreisänderungen diskutierte. Wichtige Zutat bei dieser Wahlrechtsdiskussion war das schier unerschöpfliche Fachwissen des Experten. Durch dieses Faktenmaterial bekamen die gebildeten Diskussionsteilnehmer Stoff für ihre Argumentationsketten.

Der Eindruck, daß die meisten Diskussionsteilnehmer durchaus in der Lage sind, aus mehreren Fakten eine stimmige Argumentation zu stricken, bestätigte sich in der qualitativen Auswertung der gesammelten Beiträge. Weit über die Hälfte waren in die Rubriken „Informationsbereitstellung“ und „rationale Diskussion“ einzuordnen. Ein Großteil des Rests fiel unter die Kategorie „reine Meinung“. Hier bemühte sich niemand, Meinungen durch miteinander verknüpfte Fakten zu belegen.

Habermas hat recht, das ändert der PC nicht

Profitiert also die Demokratie von der Verbreitung neuer Medien, oder wird sie neuen elektronischen Gefahren ausgesetzt? Jürgen Habermas schrieb 1962 seine Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ unter dem Eindruck eines wachsenden Legitimitätsdefizits der westlichen Demokratien. Die nicht mehr überschaubare Masse politischer Entscheidungen und Vorgänge, von denen der einzelne betroffen ist, kann er selbst bei größtmöglichem Zeitaufwand nicht mehr en detail nachvollziehen. Daran wird auch der Computer nichts ändern. Er verkürzt bestenfalls die Zeit, die nötig ist, um die passenden Informationen aus großen Beständen herauszufiltern – aber aufnehmen, sprich: lesen, muß man sie immer noch selbst.

Werden allerdings umfangreiche, politikrelevante Informationen allen wunschgemäß per Computernetz zugänglich gemacht, wäre der erste wichtige Schritt zur Überwindung des Legitimitätsdefizits gegangen. Kämen zu den umfangreichen elektronischen Gesprächsforen auch die entsprechenden Online-Quellen wie Zeitungs- und Gesetzesarchive oder regionale Bürgerinformationen hinzu, bestünden also weitere Möglichkeiten, sich Fachwissen anzueignen, dann wäre viel für die informierten Wahlentscheidungen der Bürger und Bürgerinnen getan. Letztlich wäre – in Erweiterung von Habermas' Legitimitätsformel – eine Regierungsform dann demokratischer, wenn sich die Regierten über Sachthemen, die sie besonders interessieren, mit weniger Aufwand informieren und wenn sie gegebenenfalls mit entscheiden könnten.