Eine Anpassung

Der Philosoph als Antidemokrat: Eine Studie über Hans-Georg Gadamer in der NS-Zeit  ■ Von Gerwin Klinger

Hans-Georg Gadamer, der Grandseigneur der bundesdeutschen Philosophie, schwebt über der Szene seiner Kollegen wie einst der Geist über den Wassern, unerreicht von den Moden und Aufgeregtheiten, die den akademischen Betrieb in Atem halten. Seine Apotheose zum Klassiker der Hermeneutik steht an, daran lassen die zahlreichen Ehrungen zu seinem 95. Geburtstag keinen Zweifel.

Die Gadamer-Studie von Teresa Orozco – auch das ist gewiß – wird nicht aufgenommen werden in die Literatur, die in der Gadamer-Gemeinde geschätzt wird. Sie unternimmt es nämlich, die Texte Gadamers aus der NS-Zeit – dabei handelt es sich zumeist um Plato- Interpretationen – kritisch zu sichten. An diese wird eine Frage gerichtet, die Gadamers Hermeneutik selbst entlehnt sein könnte, nämlich: Wie reagiert der Bedeutungshaushalt dieser Auslegungen Platos mit dem Aktualhorizont des NS-Regimes. Der Befund ist überraschend: Die NS-Gegenwart mit Führer, Partei, Großmachtplänen und staatlich verordneten Feindbildern wird bis auf wenige Ausnahmen nicht, wie bei manchen seiner Kollegen, direkt in den philosophischen Diskurs eingelassen. Trotzdem ist sie indirekt und unausdrücklich präsent, im Modus der Andeutung, des Zuverstehengebens und des Mitgemeinten. Ein Beispiel: Im Januar 1934 hält Gadamer vor der Gesellschaft der Freunde des Humanistischen Gymnasiums in Marburg einen Vortrag über Plato und die Dichter. Es geht um Platos Polemik gegen die Dichter und Sophisten. Ihren Sinn bringt Gadamer seinem literarisch gebildeten Publikum nahe: Sie sollen die „Vertreibung der Dichter als eine Entscheidung im Rahmen einer Staatsgründung“ (53) und als „radikale Abkehr vom bestehenden Staat“ (47) begreifen. Ein Akt, der ein neues Staatsethos und eine neue Staatsgesinnung etablieren will, um den maroden alten Staat durch einen „Staat der Wächter“ zu ersetzen. Wenn Gadamer schließlich noch vermerkt, daß Plato selbst seine Jugendgedichte verbrannt habe, spätestens dann stehen Bücherverbrennung, Zensur und die Verfolgung der kritischen Intellektuellen unter dem Nationalsozialismus greifbar vor dem geistigen Auge.

Freilich, daß den „Aktionen wider den undeutschen Geist“ (Mai 1933) auch von den humanistisch Gebildeten die Würde eines platonischen Staatsgründungsaktes zugesprochen gehört, hat Gadamer mit keinem Wort gesagt. Es macht die spezifische Diskretion seiner Textur aus, daß die Herstellung ihres politischen Aktualsinns, ihre Ausdeutung auf die Wirklichkeit des Nationalsozialismus hin, immer als Aktivität des Lesers erscheint. Wie dieser Effekt indes im Text selbst angelegt ist durch die Deutung leitende und den politischen Kontext aufrufende Elemente, das zeigt die akribische Analyse Orozcos. Mehr noch: Die indirekte Form des Zusammenwirkens mit den neuen Machthabern ist das Signet des gesellschaftlichen und politischen Orts, von dem aus Gadamer seine diskreten Interventionen ins Politische unternimmt. Das nationalkonservative Bildungsbürgertum hatte zwar eine tragende Rolle im NS-Staat, doch galt für den Umgang mit den konkreten Manifestationen des braunen Parteifaschismus das noli me tangere – nur einmal, 1941, im Moment des größten deutschen Triumphes, bei einem Vortrag über Herder vor kriegsgefangenen französischen Offizieren im besetzten Paris, wurde es auch bei Gadamer „völkisch“. Mit dem antidemokratischen Sinn dieser Losung trumpfte der Botschafter des siegreichen deutschen Geistes im Land des volonté général auf: Es liege im „deutschen Begriff des Volkes im Unterschied zu den demokratischen Parolen des Westens ... die Kraft zu neuer politischer und sozialer Ordnung“.

Das anregendste Kapitel ist vielleicht die Analyse des Aufsatzes „Platos Staat der Erziehung“, der 1942 in einem Band mit Beiträgen zum Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften erschien. Der Text steht deutlich im Schatten der Kriegswende, die sich in Stalingrad ankündigt. Während in dieser Lage bei den intellektuellen Eliten die Gedanken um eine Reform des NS-Systems kreisten, meist im Modus einer Verständigung über Hobbes, Machiavelli oder Friedrich den Großen, zogen die Sicherheitsapparate an der Heimatfront ein repressives Regiment auf, um den sich ausbreitenden Mißmut und Widerwillen in Schach zu halten. Das Thema, das Gadamer diesmal aus der Lektüre von Platos Politea gewinnt, heißt der Niedergang des Staates in der Tyrannei und, als Ausweg aus dieser Krise, der Aufbau einer gerechten Herrschaft. Kritik der Tyrannei und Postulat der Gerechtigkeit – das klingt nach Opposition. In der Tat geht es um Stabilisierung einer Herrschaft, die kein Vertrauen mehr genießt, auf einer erneuerten Legitimationsbasis. Um „innere Stimmigkeit im Umkreis möglicher Verstimmung“ zu wahren, bedarf es mit den Worten, die Gadamer Plato ablauscht, eines „erzogenen Führertums“, das in der Form der Rechtlichkeit herrscht. Die Macht, in dieser Form ausge

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übt, binde und verbinde beide, Führer und Geführte, sei „Rechtsgewalt des Staates“ und eben nicht Willkürherrschaft. In die NS-Gegenwart schreibt sich dieser Gedanke als Abkehr vom Freund- Feind-Denken Carl Schmitts ein, dem Gadamer entgegenhält: „Tyrannen haben keine Freunde.“ Ein Punkt wird dabei von der Autorin präzise herausgearbeitet: Zwar spricht sich das Monitum dagegen aus, daß Tyrannei und Willkürherrschaft Gerechtigkeit herstellen könnten, doch zum Demokratiegedanken wird ein scharfer Trennungsstrich gezogen.

Gadamers Staatsvorstellung erinnert eher an den preußischen Obrigkeitsstaat, jedenfalls bleibt den Untertanen nur die „Einstimmung in das Ganze der Herrschaftsordnung“.

Immerhin, in einer Phase, wo die NS-Führung den „totalen Krieg“ einläutete und den Freund- Feind-Gegensatz nach innen und außen forcierte, arbeitete Gadamer am Bild einer gerechten Herrschaft, die auf die Gewinnung von Loyalität und Hegemonie statt auf Repression setzt. Mit solchen Überlegungen stand Gadamer nicht allein. Sie korrespondierten mit verschiedenen Bestrebungen im Umkreis des politischen Machtzentrums. Die Neuerung der Staatlichkeit aus dem Geist von Potsdam waren im konservativen Bürgertum und in den preußisch geprägten Militärkreisen, dem späteren 20. Juli, im Schwange. In dieses Bild paßt, daß Gadamer losen Kontakt zu Goerdeler hatte. Auch in der NSDAP selbst gab es ähnlich gelagerte Ansätze zu einer Selbsterneurung. Hans Frank, „Oberster Rechtswahrer“ und berüchtigt für sein blutiges Besatzungsregime in Polen, warnte 1942 in aufsehenerregenden Universitätsreden vor Willkür und Polizeistaat und forderte Rechtssicherheit für die deutschen „Volksgenossen“ – Kräfte und Strömungen, die, wie bekannt, nicht mehr zum Zuge kamen.

Daß die Wurzeln des Altmeisters der bundesdeutschen Philosophie in den Nationalsozialismus zurückreichen, ist der unbequeme Befund. Er hat der Autorin eine übellaunige Erwiderung des Hamburger Soziologen Stefan Breuer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.12.95) eingetragen. Sein Argument, nicht alles, was im Faschismus geschrieben wurde, sei schon deshalb faschistisch, sticht nicht. Die Textanalysen zeigen den Musterfall des gediegenen konservativen Philosophen, der nach 1933 im Sinne einer autoritären Staatsidee mitwirkte am NS-Regime und auf Distanz ging, als der „Geist von Potsdam“, dem er verbunden war, aus dem Bündnis mit Hitler ausscherte. Der Anteil des konservativen Bürgertums am Nationalsozialismus ist es doch, der die „aus heutiger Sicht schwer faßliche Naivität Gadamers“ ausmacht, die Breuer staunend einräumt und gleichwohl nicht wahrhaben will.

Teresa Orozco: „Platonische Gewalt. Gadamers Hermeneutik der NS-Zeit“. Argument-Verlag 1995, 266 Seiten, 29 DM