■ Querspalte
: Das Orakel großer Ohren

„Großmutter, warum hast du so große Ohren?“ „Damit ich dich besser hören kann.“ Glatt gelogen, böser Wolf. Richtig wäre gewesen: „Weil ich so alt bin!“

Die schamlose Lüge im „Rotkäppchen“ haben jetzt vier britische Mediziner aufgedeckt. Mit viel Geduld und exakt justierten Mikrometerschrauben. Mehr als 400 menschliche Ohren hat das Forscher- quartett penibel untersucht, Muscheln vermessen, Läppchen verglichen. Das Ergebnis: Ob Mann oder Frau, Europäer, Asiate oder Afrikaner, Jahr für Jahr legen die Knorpellappen um respektable 0,2 Millimeter zu. Und das ein ganzes Leben. Die betagte Wirbelsäule krümmt sich, die Zähne bröckeln und das Greisengesicht schrumpft. Alles vertrocknet und verkümmert. Nur die Ohren, sie wachsen und wachsen dem Erdboden entgegen. In geradezu unverschämter Vitalität.

Je älter der Mensch, desto größter seine Ohren. Die Physiognomen des 18. Jahrhunderts wußten das längst. Sie waren Giganten der Ohren-Semiotik, Titanen ihrer Deutung. Johann Caspar Lavater verrieten große Ohren nicht nur ein langes Leben, sondern auch ein ausgeprägtes Gedächtnis mit Hang zur Rachsucht bei schwacher Libido. Das leuchtet ein. Ohrenfälliger Beweis: der Elefant. Er hat die gewaltigsten Ohren, ist langlebig, sein rachsüchtiges Gedächtnis sprichwörtlich und seine koitale Verkehrsrate gering. Prince Charles und Hans-Dietrich Genscher („der mit den Ohren“) aurikulär gedeutet: bösartige Fossilien im Stadium des sexuellen Friedens.

„Nur ihr Mangel an physiognomischem Sinn war's“, sagt Lavater über die Römer, „daß sie Jesus nicht trauten.“ Der Nazarener muß winzige Ohren gehabt haben. Die markieren den „gütigen“ Menschen leider ebenso wie den „rebellischen“. Die Römer aber irrten, sahen in Jesus nur den kurzohrigen Rebellen und kreuzigten ihn. Der Kreuzestod – ein physiognomisches Versehen. Ach, Jesus, hättest du nur ein paar Jahre mit deiner Predigt gewartet! Die Ohren wären gewachsen, und alles wäre gut geworden. Walter Saller