Warum flieht er eigentlich?

■ Hamburg Oper: Marco Arturo Marellis brüchige Neuinterpretation des „Fliegenden Holländer“

Am Anfang ein Uridyll: Mutter und Kind in stiller Umarmung. Dann unschuldiges Spiel. Die Frau faltet dem Jungen ein Papierschiffchen, mit dem dieser selbstvergessen auf dem Boden umherschiebt. Ein Mann kommt, reißt die Mutter mit sich fort. Der Knabe bleibt verzweifelt zurück und wird, wir ahnen es bereits, später als Fliegender Holländer auf die ewige Suche nach der verlorenen Mutter gehen.

Die schlichte Geschichte, die Marco Arturo Marelli zu den Klängen der Ouverture erzählt, legt bereits fest, worum es ihm in seiner Neuinszenierung des Stückes an der Hamburgischen Staatsoper geht. Die Tragik der Titelfigur steht im Zentrum seiner Deutung, des Holländers Verhältnis zu Senta wird zu einer bloßen Wiederholung des traumatischen Kindheitserlebnisses. Senta gelingt es nicht, dem Holländer seine Angst und Einsamkeit zu nehmen, ihr Opfer bleibt sinnlos, dem Werk der verklärende Schluß versagt.

Die Konzentration auf den Charakter des Titelhelden fördert manches Erhellende zutage: Seine überstürzte Flucht, als er Senta in den Armen Eriks zu sehen vermeint, wird duch die Erinnerung an den Verlust der Mutter endlich einmal dramatisch plausibel gemacht. Auch die sofortige Zuneigung des Holländers Senta gegenüber gewinnt durch die Mutter-Projektion einen neuen Sinn. Erkauft ist dieser Zuwachs an Tiefgang für die Titelfigur mit einer vergleichsweise pauschalen Charakterisierung der Senta. Ihr Außenseitertum, ihre unerfüllten Sehnsüchte finden wenig Ausdruck, sie dient lediglich dazu, die Erwartungen des Holländers zu erfüllen. Selbst ihre große Szene in der Spinnstube zu Beginn des zweiten Aktes gerät so mehr zu einem Schaustück für den animiert singschauspielernden Damenchor.

Als weit problematischer für die Inszenierung Marellis erweist sich aber die große Chorszene des dritten Aktes, die er zu einer Konfrontation zwischen dem rohen Schiffervolk und dem Holländer umdeutet. Das macht insoweit Sinn, als der Chor nun eine Person ansingen und dieser drastisch ihr Außenseitertum verdeutlichen kann. Letztlich konkurriert die Szene so jedoch mit der darauffolgenden Erklärung der Reaktion des Holländers durch dessen Kindheitstrauma, und am Ende weiß niemand, weshalb er eigentlich geflohen ist.

Gekleidet wird dies alles in schöne, teilweise sogar eindrucksvolle Bilder, die die Geschichte in der Entstehungszeit der Oper um 1840 lokalisieren. Daland tritt nicht in Kapitänsuniform, sondern als Kleinunternehmer mit Anzug und Zylinder auf, in der Spinnstube herrscht strenge Arbeitszucht. Eher konventionell dagegen die Personenführung in den intimeren Szenen. Vor allem in den Duetten wird selten mehr getan als gesungen, allerdings auf sehr hohem Niveau.

Die Hauptlast der Interpretation trägt dabei Franz Grundheber als Holländer, der mit stimmlicher und darstellerischer Autorität die Verletzlichkeit wie die Größe der Figur nahezu optimal vermitteln kann. Aus dem hohen Niveau der gesamten Besetzung fällt allein die Senta Gabriela Benackovas etwas heraus. Ihre lyrische Sopranstimme verfügt zwar in der Höhe über schönen Pianoschmelz, für eine dramatische Rolle fehlt ihr jedoch das tiefe Fundament.

Zahlreiche Buhrufe des sonntäglichen Premierenpublikums quittierten Gary Bertinis erstes Wagner-Dirigat. Der neue Tel-Aviver GMD hatte einige Koordinationsschwierigkeiten mit den Sängern und blieb mit seinem Bemühen um Akzente allzusehr an der Oberfläche der Partitur. Vieles blieb flach artikuliert, und kaum jemals gelang es Bertini, mit den mäßig disponierten Philharmonikern einen großräumigen Spannungsbogen aufzubauen.

Jörg Königsdorf