Sanssouci
: Vorschlag

■ Imre Kertesz erzählt von Wahrheit und Lüge in der Geschichte

„Ein und denselben Roman leben und schreiben“, lautet ein Eintrag im „Galeerentagebuch“ des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész. Ein Schlüsselerlebnis in der Jugend des Autors hat ein Leben lang den Antrieb zum Schreiben gegeben: Kaum 15 Jahre alt, wurde Kertész nach Auschwitz deportiert, an der Selektionsrampe ausgesondert und nach Buchenwald zu Arbeit verbracht. Nach der Befreiung ging er zurück nach Ungarn, schlug sich als Journalist durch, arbeitete als Übersetzer und seit 1953 als freier Schriftsteller. Als nach langem Anlauf 1975 endlich sein Roman „Mensch ohne Schicksal“ erscheinen konnte, wurde das Buch von der Presse in Ungarn totgeschwiegen.

Der Holocaust war kein Thema im Osten. Nach offizieller Lesart diente der Völkermord an den Juden nur dazu, vom Klassencharakter des imperialistischen Raubzuges abzulenken. Noch etwas anderes wird den Verfechtern der sozialistischen Literaturdoktrin nicht gefallen haben: In den Büchern von Kertész erscheint der millionenfache Mord an den Juden nicht als historischer Betriebsunfall, sondern als Überspitzung des Geschichtsverlaufs. Kertész: „Schon als ich geboren wurde, war alles falsch.“ Die Absurdität der Geschichte habe 1945 nicht aufgehört, beinahe nahtlos schließe sich das neue System an. Kertész klagt nicht, daß seine Erfahrungen und Erlebnisse aus der Lagerzeit in den Jahrzehnten danach wieder nicht gefragt waren. Dafür registriert er still die Kontinuität: „Warum haßt man die Juden seit Auschwitz noch mehr? Wegen Auschwitz.“

Die großen geschichtlichen Ereignisse hat Kertész hautnah erlebt: die Befreiung von den Nazis, den Einmarsch sowjetischer Truppen und den schleichenden Systemwechsel in Ungarn während der achtziger Jahre. Sein Engagement ging jedoch selten über die literarische Stellungnahme hinaus. Im „Galeerentagebuch“ präsentiert Kertész neben scharfsinnigen Beobachtungen des sozialistischen Alltags philosophische Reflexionen und Aphorismen. 1983 notiert er: „Bisher war die Lüge die Wahrheit, doch inzwischen ist selbst die Lüge nicht mehr wahr.“

Ein Phänomen trifft auf Kertész in besonderer Weise zu: daß jene Zeitgenossen, die die schwärzesten Ahnungen vom Wesen der Menschen haben, den charmantesten Umgang mit ihresgleichen haben. Die wahren Menschenfreunde sind eben doch die Pessimisten. Peter Walther

Imre Kertész liest heute abend mit Peter Esterhaźy im Literarischen Colloquium, Am Sandwerder 5, Zehlendorf, 20 Uhr