Die Kinder der Revolution

Nordkorea läßt nur wenige Touristen ins Land. Sie sehen lächelnde Mädchen, bauliche Superlative, Geschenke für die Führer und die Grenze zum Süden  ■ Von Alexander Frater

Luftschutzsirenen, ein Männerchor und eine Frauenstimme, die aus einem Lautsprecher brüllt, holen mich morgens in Pyongyang aus dem Schlaf. Die Chorsänger entpuppen sich später als 1.000 Soldaten, die vor meinem 45stöckigen Hotel auftraten; die Frau als eine Funktionärin, die der Belegschaft eines nahe gelegenen Ministeriums einen Morgengruß entbot – „heute müssen Sie noch härter arbeiten“. Die Sirenen in der nordkoreanischen Hauptstadt werden offenbar routinemäßig überprüft.

Die Stadt, die während des Koreakriegs durch US-amerikanische Bomben dem Erdboden gleichgemacht wurde, ist vollständig wiederaufgebaut. In ihrer Mitte ragen Denkmäler und Marmorpaläste in den Himmel, Hunderte weißer Wohnblocks ziehen sich über die Hügel. Dennoch bewahrt sie die Atmosphäre eines auf dem Reißbrett gezeichneten Traums, einer Metropolis, geschaffen für Generäle und hohe Parteifunktionäre.

Wenn die Nacht hereinbricht, verschwindet die normale Bevölkerung und überläßt alles den paar Dutzend alten Männern, die sich in flaggengeschmückten Mercedes- Limousinen über leere Boulevards chauffieren lassen. Dann hat man das Gefühl, Pyongyang sehe genau so aus, wie es der Große Führer gewollt hat: ein überwältigendes Denkmal voller Erinnerungen an ihn.

Das Große Denkmal, eine Bronzestatue Kim Il Sungs von der Höhe einer Mondrakete, erhebt sich auf dem Gipfel des Mansu- Berges und überschaut die von ihm erbaute Stadt; es wird flankiert von hundert Meter langen Reihen kleinerer Bronzestandbilder. Sie zeigen Männer mit quadratischem Kinn und starke, heroische Frauen, die epische Schlachten schlagen, die Ernte einbringen, Revolutionen wagen. Herr Li, unser Führer, ermahnt mich mit einem Anflug von Strenge: „Die anderen warten schon.“

Alle Besucher Pyongyangs müssen sich zunächst einmal vor dem Ebenbild des Großen Führers aufstellen und verbeugen. Wer dessen Leistungen auf dem Gebiet der Menschenrechte und des internationalen Terrorismus nicht ganz vorbehaltlos betrachtet, mag dabei seine Probleme haben, aber in der Nähe steht aufmerksam ein kleiner drahtiger Kniebeuge-Inspektor. Weit weg von zu Hause, scheint es mir angeraten mitzuspielen. Ich gestatte mir ein leichtes Kopfnicken, und er gönnt mir dafür einen langen, nachdenklichen Blick.

Ich frage nach den Standbildern. Herr Li hält sich zurück. „Sie werden an einem besonderen Ort gemacht, in einem besonderen Verfahren; wir haben es selbst erfunden.“ – „Kann man das sehen?“ – „Nein, nein. Alles dort ist absolut geheim.“

Frau Kim, die den Hochgeschwindigkeitsaufzug im „Turm der Juche-Gedanken“ bedient, sagt über den 170 Meter hohen Leuchtturm der Stadt: „Nachts leuchtet die Fackel über die Stadt, ein Strahl zu Ehren des Großen Führers. Er war der Autor der Juche-Gedanken, die, kurz gesagt, für Selbstgenügsamkeit stehen. Die Massen lenken die Revolution; wir alle sind verantwortlich für unser Geschick, jeder hat die Möglichkeit, es zu ändern.“

Am Fuß des Turms verkauft ein Laden Ginsengzahnpasta und Chong-Myong-Tabletten. Eine Flasche mit 70 Stück für 280 US- Dollar. „Diese Tabletten haben in Europa Goldmedaillen errungen“, sagt die Verkäuferin ziemlich aggressiv. „Ja, aber wofür sind sie gut?“ – „Gehirntumor, chronische Hepatitis, Leberzirrhose und die Nachwirkungen von Gehirnthrombose.“ Sie wirft den Kopf hoch. „Okay? Eine Flasche?“ – „Ich denke noch drüber nach“, sage ich.

Wir fahren mit der U-Bahn von „Bereicherung“ nach „Ruhm“. Die Stationen, hundert Meter unter der Erde, ähneln barocken Nachtclubs von der Art, wie sie einst König Farouk liebte: Wandteppiche, Marmor, sanfte, vielfarbige Beleuchtung, buntes Glas, Kandelaber in Gold und Rosa. Für zehn Jon (hundert Jon sind ein Won) oder einen Groschen kann man an einem beliebigen Bahnhof einen klapprigen Zug besteigen. Ein dänischer Ingenieur sagt: „Ich habe Fabriken gesehen, die doppelt so tief lagen, mit Tausenden von Arbeitern, ganzen Straßennetzen und mehr Fahrzeugen, als man auf der Oberfläche zu sehen kriegt. Sie bereiten sich auf den Weltuntergang vor; jeder glaubt hier, früher oder später werde der Süden mit Raketen angreifen.“

Wir haben den „Kinderpalast“ noch gar nicht erreicht, als Herr Li schon die baulichen Superlative aufzuzählen beginnt, die besonders wichtig sind in einem Lande, in dem ausländisches Lob selten ist. „55,3 Meter ist das Gebäude hoch“, singt Herr Li, „500 Räume, die Bibliothek hat 100.000 Bücher, Theater für 1.100 Besucher. Die Schüler aus den städtischen Schulen kommen her für Kurse außerhalb des Lehrplans.“ – „Was für Kurse?“ fragen wir. „Was Sie sich nur denken können.“ Wir fahren hinter einer ganzen Flotte von Limousinen vor. Kein einziges Kind ist zu sehen, aber das Gelände vor ihrem Palast hat sich in einen Mercedes-Parkplatz verwandelt. „VIPs“, sagte Herr Li locker.

Im ersten Raum kämpfen ein Dutzend leichtgeschminkte kleine Mädchen in bunten Kleidern mißtönend, aber voller Bravour mit zitherähnlichen Instrumenten. Verwirrt von ihrem eingefrorenen Kurtisanenlächeln und ihren wiegenden Körperbewegungen, will ich Herrn Li eine Frage stellen, aber der konferiert gerade eifrig mit einer Rotte grimmig dreinschauender Kinderpalast-Funktionäre. Er sagt zu mir: „Der Sprecher des jordanischen Parlaments soll gleich kommen. Wir müssen sofort weitergehen. Offizielle Delegationen haben vor Touristengruppen immer Vorrang.“ Ich bleibe noch einen Augenblick, und als ich mich von den kleinen Mädchen verabschieden will, wirken ihre Gesichter leer und gelangweilt. Aber sofort knipsen sie ihr Lächeln wieder an, und als der jordanische Sprecher an der Spitze seines Gefolges hereinschreitet, strahlen sie auf wie Bogenlampen.

Im nächsten Raum hole ich meine Gruppe wieder ein: Andere Mädchen und ein Junge spielen rhythmische Melodien auf dem Akkordeon. Herr Li, etwas zerstreut, sagt: „Wir kriegen jetzt noch ein Problem. Der kasachische Botschafter kommt auch in den Akkordeonraum, aber aus einer anderen Richtung.“ Dann allerdings erscheint der Botschafter von Ruanda, noch dazu durch die falsche Tür, während Herr Li uns schwitzend in einen weiteren Raum drängt, wo ein Dutzend Mädchen sticken und schwatzen. Dort wird ihm mitgeteilt, zwei wichtige Palästinenser seien jetzt noch bei den Kalligraphen, kämen dann aber sofort zu uns. Mit erstickter Stimme murmelt er: „Okay, gehen wir also in den Computerraum.“

Anschließend besuchen wir den Kalligraphie-Raum – und stehen vor den erbosten Palästinensern, die sich der Kinder erwehren, die eifrig mit Pinseln und schwarzer Tinte revolutionäre Parolen aufmalen. Die Palästinenser können nicht weitergehen, weil sich der kasachische Botschafter nebenan bei den Stickerinnen vertrödelt hat.

Herr Li steckt den Kopf in den Raum, verbeugt sich und führt uns ein Zimmer weiter, wo sieben Pianisten donnernd das Gebet einer Jungfrau darbieten: fünf kleine Jungen an Klavieren, zwei finster dreinschauende Mädchen an Konzertflügeln. Dann, Schrecken über Schrecken, kommen die übellaunigen Palästinenser herein. Es folgt der kasachische Botschafter, und als die Musik zu einer donnernden Akkordwoge anschwillt, kommt auch noch das halbe jordanische Parlament, vorneweg der Sprecher mit haschemitischem Kopftuch. Herr Li fängt meinen Blick auf und schaut gequält zur Seite.

Auf der Fahrt von Pyongyang nach Nampo bemerken wir, daß die Autobahn zwei durchgehende gelbe Linien aufweist, direkt in der Mitte, eine Wagenbreite voneinander entfernt. Solche Markierungen haben wir häufig auf den Boulevards der Hauptstadt bemerkt, aber hier ziehen sie sich mitten durch die Reisfelder. Herrn Lis elegante Ablenkungsmanöver verraten uns, daß die gelben Linien wichtig sein könnten, vielleicht sogar direkt mit der Spitze zu tun haben. Dann klickt es bei uns: Das war Kim Il Sungs persönliche Verkehrsspur.

Herr Li, mit mehrdeutigem Lächeln, spricht lieber vom Damm durch den Golf von Westkorea. Die Armee baute ihn in nur fünf Jahren. Eine Straße und eine Eisenbahnlinie führt über die acht Kilometer breite Mündung des Taedong-Flusses. „Jetzt können 100.000 Hektar wiedergewonnene Bodenfläche bewässert werden, die Fabriken von Nampo und Taean erhalten industrielles Nutzwasser, und Trinkwasser gibt es für jedes Dorf im weiteren Umkreis.“ Während wir über den Damm fahren, informiert Herr Li uns – mit dem schon vertrauten Anflug von Stolz – über die Kosten: 4 Milliarden US-Dollar.

Als offizielle Führerin für den Damm durch den Golf von Westkorea will Frau Ku uns ein Video zeigen. Bisher hatte ich ihr aus dem Wege gehen können, aber jetzt, schüchtern, unschuldig, aber entschlossen, scheucht sie mich in den Vorführraum. Der Inhalt des Films: Um die Steine für ihr Staudammprojekt zu beschaffen, mußten die Ingenieure drei Berge aufschneiden und abtragen. Natürlich gab es Probleme, die manchmal unüberwindlich schienen – Höhenkrankheit im einen Augenblick, gleich darauf drohendes Ertrinken in der Bucht. Aber dann sprang Kim Jong Il wie Mighty Mouse ins Bild, klein und bebrillt. Wenn er seine Arme schwenkte und losredete, konnten wir mit ansehen, wie sich die faltigen, wettergegerbten Gesichter der Ingenieure mit dem Licht der Erkenntnis überzogen. Ach ja! Aber natürlich! Das lag doch auf der Hand!

Hinterher frage ich Frau Ku: „Verfügt der Liebe Führer eigentlich über eine richtige Ingenieurausbildung?“ – „Nicht genau. Er ist einfach bei allem hervorragend. Als er noch sehr jung war, erteilte er seinen Lehrern Unterricht. Und seine Examensarbeit, wissen Sie, die wurde als unsterbliches Dokument eingestuft.“

Auf einem Platz in der Nähe beginnt eine Blechkapelle zu spielen. Dort stehen 1.000 Männer und Frauen in geordneten Reihen, während Parteifunktionäre durch Megaphone auf sie einbrüllen. Jeder hat etwas Rosafarbenes zum Winken mitgebracht – Papierblumen, Zweige, Tücher –, und sobald ein Redner einen revolutionären Kernsatz von sich gibt, bricht über ihren Köpfen ein rosa Sturm los. Herr Li sagt: „Sie schicken einen Brief an den Lieben Führer und schwören ihre Ergebenheit gegenüber dem 50. Jahrestag der Arbeiterpartei Koreas. Im ganzen Lande werden Briefe abgeschickt; bei dieser Zeremonie wird den Briefen gute Fahrt gewünscht.“

Einige Kilometer später begegnen wir hundert hübsch gekleideten Frauen, die zu einer Trommel und einer selbstgesungenen Melodie tanzen. „Landvolk“, sagt Herr Li, „sie warten auf den Brief, um ihn zu bejubeln.“ Wir steigen aus, um den Tänzerinnen Beifall zu klatschen, und sie klatschen mit breitem Lächeln zurück.

Eine alte Frau mit magerem, tiefbraunem Gesicht tritt auf uns zu. Sie stellt sich vor Sylvia, eine pensionierte Museumsangestellte aus Guernsey, und gönnt ihr einen ganz besonderen Blick: zärtlich, schwesterlich, voller Intensität. Dann breitet sie die Arme aus. Und schon legen die beiden los und walzen mit so viel Anmut und Energie über den Damm, daß andere sich bald genauso tapfer zeigen: Sie tanzen mit dem Feind. Der Gesang wird lauter, das Trommeln schneller, und für eine halbe Stunde lang überwinden Neugier und Interesse Jahre der Feindschaft. Es ist die schönste Party, die ich je erlebt habe. Aber Herr Li murmelt bleich vor sich hin: „Unvorstellbar, unvorstellbar!“

Wir sind auf dem Weg zum Bahnhof, um nach Myohynangsan zu fahren, 160 Kilometer entfernt. Die Internationale Freundschafts- Ausstellung in einem Palast mit sechs Stockwerken und 120 Räumen am Ende eines lieblichen, fichtenbewaldeten Tals präsentiert die Geschenke, die die beiden Kims, Vater und Sohn, von ausländischen Führern und Delegationen erhalten haben. Da gibt es einen Eberkopf von Ceaușescu; einen Luxus-Eisenbahnwagen von Mao; eine silberne Kaffeekanne von Gaddafi; Gemälde von Castro; eine kugelsichere Zil-Limousine von Stalin; einen Weinpokal mit eingravierter Parlamentsszene von der britischen Labour Party; eine silberne Pillendose von der BBC; Karaffen von Hogg Robinson Travel und Capricorn Shipbuilders, London; ein Tablett von den Bergarbeitern Yorkshires. Aber das Beste ist ein ausgestopftes, aufrecht stehendes Krokodil mit einem Tablett in den Vorderklauen. Auf dem Tablett stehen eine Flasche und vier Gläser, und eine Karte identifiziert den Spender: Daniel Ortega von den nicaraguanischen Sandinisten.

Unsere Führerin sagt: „Wir errichten jetzt ein neues Gebäude von der gleichen Größe für alle weiteren Geschenke. Der Liebe Führer erhält jährlich 20.000.“ Bei sieben Tagen die Woche, rechne ich durch, sind das 54,7 Geschenke am Tag oder 2,28 pro Stunde, ein Geschenk alle 26 Minuten, selbst wenn der Liebe Führer schläft. Ich frage: „Schaut er sie sich alle persönlich an?“ „Aber natürlich!“ Deshalb also bekommt ihn niemand mehr zu Gesicht. Alle Gerüchte von Alkoholismus oder Melancholie sind bloße Erfindungen der bösartigen ausländischen Presse. Kim Jong Il muß unaufhörlich Pakete öffnen.

Im Buchladen des Kyoto-Hotels kaufe ich mir ein Exemplar von „Der große Lehrer der Journalisten“, eine Anthologie von Geschichten, die von der engen Beziehung Kim Jong Ils zu den nordkoreanischen Medien berichten. Die Überschriften einzelner Kapitel lauten: „Beim Zählen der koreanischen Pfeffersträucher mit einem Journalisten“; „Journalisten müssen mehr Bücher lesen als alle anderen“; „Sorge um die Mahlzeiten der Journalisten“; „Autos fahren einen anderen Weg, damit Journalisten ruhig arbeiten können“ (der Verkehr wird an dem Gebäude der Zeitung Rodong Sinmun vollständig vorbeigelenkt); und, für mich ganz besonders interessant: „Bis zur Vollendung eines Reiseberichtes.“

Es ist die Geschichte „eines Korrespondenten“, der Kim Il Sung auf einer Reise in „ein asiatisches Land“ begleitet hatte und seine Eindrücke niederschreiben sollte. Bald darauf wurde er in Kim Jong Ils Büro gerufen. Dort gestand der Korrespondent alsbald, er habe keine Ahnung, wie er seinen Artikel aufbauen sollte. „In tiefer Meditation saß der Liebe Führer eine Weile still da. Dann erhob er sich und ging mit großen Schritten durch den Raum, während er die anzuwendenden Prinzipien erörterte. ,Wenn man einen guten Reisebericht schreiben will, muß man einen ideologischen Kern fest im Auge behalten: Selbst wenn man eine Landschaft beschreibt oder eine Lebensweise, muß man das dem ideologischen Gehalt unterordnen.‘“

Während dem Korespondenten sein Artikel schon deutlich vor Augen stand – „Ihm schossen Untertitel durch den Kopf wie ,Das Hohelied des Generals Kim Il Sung wandert um den Äquator‘“ –, nahm ihn der junge Kim auf eine Fahrt mit seinem Auto mit und gab ihm den Rat, „sich zu entspannen und an die frische Luft zu gehen. Unter lautem Lachen sagte er, auf einen guten Reisebericht müsse man sich politisch vorbereiten.“ Als er den Journalisten vor seinem Büro absetzte, schüttelte ihm der große Lehrer der Journalisten die Hand und forderte ihn auf, beherzt ans Werk zu gehen. Das Ergebnis war ein Artikel mit dem Titel „Ewige Freundschaft und unzerbrechliche Bande“, der noch heute als Klassiker der nordkoreanischen Reiseliteratur gilt.

Das Große Studienhaus des Volkes hat Platz für 30 Millionen Bücher, Pulte für 12.000 Leser und ein automatisiertes Buchausgabesystem, das den gesuchten Band liefert, bevor man auch nur den Titel fertig ausgesprochen hat. Darauf ist die Frau, die für das System verantwortlich ist, vermutlich besonders stolz. „Wählen Sie etwas aus!“ sagt sie. Ich entgegne: „Gut, etwas Englisches.“ – „Typisch englisch?“ fragte sie. „Ja.“ – „Wie viele?“ – „Zwei.“ Plötzlich schießt ein düsengetriebener Puppenkinderwagen auf uns zu. Strahlend händigt sie mir den Inhalt aus: „Anästhesie für Tierärzte“ und „Wie ziehe ich größere Verträge an Land“.

An einer Tankstelle, an der wir einen starken Kaffee trinken, frage ich Herrn Li: „Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“ Er zündet sich eine Zigarette an. „In Ordnung.“ – „Haben Sie geweint, als Kim Il Sung starb?“ – „Ja.“ – „Haben Ihre Kinder geweint?“ – „Sie waren sogar untröstlich“, sagte er. „Sie weinten sogar im Schlaf.“ – „Das finde ich unglaublich.“ – „Warum? Sie liebten den Großen Führer mehr als ihren eigenen Großvater.“

Später, als wir die sechsspurige Wiedervereinigungsautobahn erreichen, hält unser Fahrer an und verdeckt seine Nummernschilder mit Pappe. „Die Fahrzeuge der südkoreanischen Marionetten tun das auch“, sagt Herr Li. Neben einem vielsagenden Straßenschild mit der Aufschrift „Seoul 70 km“ markiert ein massives kubistisches Betontor – der Querbalken trägt die Aufschrift „Wir werden Korea vereinen“ – die Einfahrt zur entmilitarisierten Zone. Heute ist sie voller Vogelstimmen und riecht nach Ackerkrume. Hier teilt ein enger Korridor das Land der Morgenstille. Auf der einen Seite stehen eine Million Südkoreaner und 40.000 US-Soldaten, auf der anderen steht die fünftgrößte und kriegerischste Armee der Welt.

Begleitet von einem drahtigen jungen Offizier und zwei Soldaten – „Wir sind hier zu Ihrem Schutz“ –, fahren wir an mit Stroh bedeckten Feldern für den Ginsenganbau vorbei, überwinden den Elektrozaun mit seinen 330 Volt und fahren im Niemandsland weiter durch bewaldetes Gelände. Das „Waffenstillstandsdorf“ Panmunjong ist ein aufgedonnerter, eng zusammengedrängter kleiner Ort, und die Baracke der Waffenstillstandskommission steht mitten auf einer 100 Meter breiten Asphaltfläche, auf der einen Seite die palastartigen Gebäude des Nordens, auf der anderen die provisorischen Schuppen und ein zweigeschossiger Aussichtsturm, mit einem Dach wie der Deckel einer Teekanne.

Innerhalb der entmilitarisierten Zone sind einige positive Entwicklungen im Gange. Von Menschenhand seit vierzig Jahren unberührt, ist sie zu einem Zufluchtsort für seltene Pflanzen und Tiere geworden. Das Prunkstück ist ein sibirischer Kranich, der als ausgestorben galt. Nun brüten die Kraniche hier in solchen Mengen, daß jedes Jahr, wenn sie in einem Schwarm weißer Flügel einfliegen, beide Seiten die Waffen niederlegen und zuschauen. In einem verwunschenen Tal innerhalb Flintenschußweite liegen die Begräbnishügel von Kongmin und seiner mongolischen Gemahlin – im 14. Jahrhundert regierte er das Eremiten-Königreich. Das Tal verläuft zwischen einigen Bergen und einem grasbewachsenen Hügel mit ihren Gräbern, die immer noch von alten Steinlöwen bewacht werden.

Herr Li setzt sich mit mir ins Gras. „All unsere Könige“, sagt er, „wollten für irgend etwas berühmt werden – Munjong zum Beispiel war berühmt, weil er über Sonnenflecken schrieb. Kongmin jedoch wollte durch sein Grabmal berühmt werden. Nachdem er den perfekten Ort gefunden hatte, bereitete er es drei Jahre lang vor, und in den nächsten 41 Jahren regierte er häufig von hier aus das Land; er erledigte viele Regierungsgeschäfte neben seinem Grabmal.“

Herr Li deutet auf einen der kleinen, perfekt geformten Gipfel. „Der Oje-Berg. Als der König von einer Verschwörung gegen ihn erfuhr, schickte er eine Gruppe mitsamt dem Verschwörer los, den Berg zu ersteigen. Ein Vertrauter mit einem Fernglas achtete auf den König; wenn der ein Taschentuch aus dem Ärmel zog, sollte der Verschwörer erdrosselt werden. Wegen einer Verwechslung erdrosselten sie allerdings einen königstreuen Astrologen.“ Herr Li lächelt. „,Oje!‘ sagte der König.“

Übersetzung: Meino Büning

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