Körperteile als Konstruktionsmaterial

In William Forsythes neuem Ballettabend „Six Counter Points“ wird der klassische Tanz vorgeführt  ■ Von Jürgen Berger

Es geht ihm schon lange nicht mehr darum, einen homogenen Ballettabend zusammenzustellen. Forsythe, der Strukturalist unter den Choreographen, ist eine singuläre Erscheinung und stellt in unterschiedlichen Zusammensetzungen Kurzchoreographien zusammen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen wäre es ein Widerspruch, würde er seine Arbeit als Bewegungs/Ton/ Bild/Wort-Recherche verstehen, fügte dann aber aus den Einzelteilen eine abendfüllende Geschichte. Seine Tanz-Kartographien sind immer nur das, womit er sich gerade beschäftigt hat; die Summe ist lediglich das Resultat der Einzelteile. Zum anderen ist Forsythe einer der meistbeschäftigten Choreographen, so daß er die Arbeit der letzten Jahre als Fundus benützt und einzelne Stücke immer wieder neu kombiniert, sei es für Brüssel, Paris oder Frankfurt. Work in Progress bedeutet für seine Tänzerinnen und Tänzer, daß sie sich permanent auch mit zurückliegenden Choreographien beschäftigen.

Den Titel von Forsythes neuem Ballettabend in Frankfurt/Main könnte man mit „Sechs Gegenpunkte“ übersetzen. Zwei der sechs sich widersprechenden, reibenden, ergänzenden Tanzstücke stellte er Ende letzten Jahres beim Holland Dance Festival und im Nederlands Dans Theater (Den Haag) vor.

Die Spannbreite könnte nicht größer sein. Es beginnt mit minimalistischen Bewegungsexerzitien in „The The“, die wirken, als spürte ein körperbehindertes Tänzerpaar deregulierten Bewegungen nach. Entfernte Straßengeräusche dienen als Klangkulisse, im Hintergrund wechseln Einblendungen wie „the construction of pleasure“. Das Verblüffende am Bewegungsrepertoire: Energieströme fließen durch die Körper, und die Bewegungen erreichen eine derartige Virtualität, daß sie unbeinflußbar zu geschehen scheinen. Nicht nur Glück, auch Bewegung ist ein Konstrukt. Die Körperteile sind Konstruktionsteile. Christine Bürkle und Stephen Galloway zeigen sie immer wieder, tragen zum Beispiel demonstrativ die Ellbogen wie ein Schild vor sich her. Co-Choreographin von „The The“ war Dana Caspersen.

Die Wege des William Forsythe, auf denen er die Bewegung in Raum und Zeit ausmißt, können in konträre Richtung gehen. In „Approximate Sonata“, einem der drei Stücke nach der Pause, klappt vordergründig zuerst einmal gar nichts. Der Vorhang hebt sich, eine zurückgenommene Frauenstimme in Popsongnähe erklingt, und ein Tänzer geht einige Schritte in Zeitlupe vorwärts. Er scheint zu zweifeln, ob er sich das wirklich antun soll. Plötzlich geht der Vorhang wieder runter. Nach einigen Wiederholungen, die selbst im Frankfurter Publikum, das ansonsten bedenkenlos auf Forsythes Seite steht, für dezentes Unbehagen sorgen, war alles nur ein Scherz. Der Tänzer reiht sich in ein größeres Ensemble und einen schnellen, konzentrierten Tanz ein.

„Approximate Sonata“ gehört nicht zu Forsythes Glanzstücken, zwei Choreographien vor der Pause schon eher: „Duo“ mit Regina van Berkel und Jill Johnson, eine fließende Choreographie nach minimalistischen Klavierakkorden von Thom Willems; und das phänomenale „Trio“, in dem ein Streichquartett Beethovens, fragmentiert wie in einem Godard- Film, in den Tanz von Dana Caspersen, Jacobo Godani und Thomas McManus knallt. Nach der Pause kommt „Four Point Counter“, in dem vier Tänzer von wummernden Cinemax-Tönen und hektisch kreisenden Scheinwerfern getrieben werden.

Schlußpunkt ist „The vertiginous thrill of exactitude“, ein ironischer Abgesang auf klassisch spitzelndes Ballett. Hinten ein himmelblaues Transparent, auf dem tatsächlich auch „Himmelblauer Hintergrund“ steht. Auf der Tanzfläche drei Tänzerinnen und zwei Tänzer mit weggespreizten Fingern und strahlendem Lächeln, seit jeher aus den Sphären des klassischen Tanzes bekannt. Bei den Herren formen stramme Bodys die Körpermuskeln nach, bei den Damen sorgen die bekannten Reifröckchen nicht nur im Falle von Francesca Harpers athletischem Körper für witzige Kontraste. Ein sterbender Schwan im Bodybuilding-Studio. Auch hier gilt: Forsythe ist ein Meister feiner Nuancen und sich kommentierender Gegensätze.

Der klassische Tanz wird nicht denunziert, sondern ironisch vorgeführt. Sein „Durchdringender Thrill der Genauigkeit“ wirkt nur im Kontext dessen, was zuvor auf der Bühne zu sehen war. „Thrill“ kann mit Schwindel übersetzt werden, und hätte es nicht die extremen Bewegungs-Erkundungen zuvor gegeben, könnte das Schlußstück tatsächlich als Tanz hoch oben auf der klassischen Spitze durchgehen.

William Forsythe: „Six Counter Points“. Musik: Thom Willems, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert. Kostüme: Stephen Galloway. Mit Dana Caspersen, Jacobo Godani, Thomas McManus, Regina van Berkel, Jill Johnson u.a. Weitere Vorstellungen: 25.–28. Januar, Ballett Frankfurt/ Main