Keine Verdunklungsgefahr mehr

■ Russische Lyrikerin Alina Wituchnowskaja bleibt auf freiem Fuß. Sie warnt ihre Generation vor Spitzeldiensten für die Polizei

Moskau (taz) – Die 22jährige russische Lyrikerin Alina Wituchnowskaja muß nicht wieder hinter Gitter. Das hat ein Gericht am Montag in Moskau entschieden. Die junge Frau war wegen angeblichen Drogenhandels angeklagt worden. Ein Jahr lang hatte die Lyrikerin im berüchtigten Gefängnis „Butyrka“ in Untersuchungshaft gesessen, ehe sie im Oktober vergangenen Jahres wegen zahlreicher Verfahrensfehler vorläufig freigelassen worden war. Bekannte SchriftstellerInnen und das russische PEN-Zentrum hatten sie verteidigt. Die taz berichtete.

Diesmal sah das Gericht keinen Grund für erneute Haft. Verdunklungsgefahr bestehe nicht, meinte die Richterin. Sie begründete dies damit, daß die Dichterin von neuen Zeugen belastet wird, mit denen die Angeklagte aber keinen Kontakt aufnehmen könne, weil die Zeugen selbst im Gefängnis säßen. Es handelt sich dabei um drei junge Männer und eine Frau, die im Drogenrausch verhaftet wurden, teils Kinder hoher Beamter. Diese Wendung der Dinge wirkt wie eine Illustration zu Alinas eigener These, daß das Gefängnis heutzutage in Rußland vor allem als „Fabrik zur Produktion von Denunzianten“ dient.

In den drei Monaten seit ihrer Entlassung hat die junge Frau eifrig produziert: Ein Kurzroman mit dem Titel „Die letzte alte Wuchererin der russischen Literatur“ und ihr „Gefängnistagebuch“ werden demnächst veröffentlicht. Die Tageszeitung Iswestija brachte in der vergangenen Woche Alinas Artikel „Im Gefängnis“, in dem sie Schlüsse aus ihren Hafterlebnissen zieht.

Sie beschuldigt darin die Sicherheitsorgane, massenhaft Jugendliche mit Drogen zu versorgen, sie anschließend zu verhaften und mit dem Versprechen, sie laufenzulassen, zur Zusammenarbeit zu erpressen. Der Einsatz von Drogensüchtigen als Agenten, so warnt Alina, werde die Grundlage eines neuen Totalitarismus bilden. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen.

Gemäß einer UNO-Expertise ist schon der bloße Aufenthalt dort nicht nur als Menschenrechtsverletzung, sondern als Folter zu werten. Um ein Mehrfaches überbelegte Zellen, halbverdorbene, halbrohe Nahrung, Mäuse und Küchenschaben, die über die Schlafenden kriechen, einmal ein Rattenschwanz in der Suppe – so schildert die junge Frau ihre Eindrücke dort. Dazu kommen Tag und Nacht Geschrei, Zellendurchsuchungen und Knüppelschläge. Über ihre Verhöre berichtet Alina: „Jagdeifer (genau das war's!) glomm in ihren Augen erst auf, als sie mich nach dem Drogenmißbrauch unter Kindern einflußreicher Persönlichkeiten befragten. Sie brauchten kompromittierendes Material vor den Wahlen. Und sonst nichts.“ Die Dichterin warnt ihre Generation davor, zu Denunzianten und Spitzeln zu verkommen. Barbara Kerneck