"Begehrlichkeiten werden geweckt"

■ Der oberste Datenschützer bemängelt den von Seehofer eingeführten Diagnosecode ICD 10: "Der Mensch darf nicht mit unrichtigen Daten belastet werden." "Mangel des sexuellen Verlangens" geht keinen was an

Joachim Jacob ist seit Juni 1993 Bundesbeauftragter für den Datenschutz. Er hat Bedenken gegen den Diagnoseschlüssel ICD 10, den Gesundheitsminister Seehofer in die Abrechnung der Ärzte eingeführt hat. Jacob trifft sich morgen mit Seehofer.

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taz: Herr Jacob, auch jetzt schon teilen Ärzte den Krankenkassen mit, ob ein Patient an einem Magengeschwür leidet, an Bronchitis oder Fußpilz. Warum die Aufregung, wenn das nun in verschlüsselter Form geschehen soll?

Joachim Jacob: Daß die Diagnosen anstatt im Volltext in codierter Form übermittelt werden sollen, ist aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht das Hauptproblem, obwohl wir aus Erfahrung wissen, daß ein codierter Schlüssel immer dazu führt, daß Daten leichter auswertbar werden. Das Hauptproblem ist, daß der ICD 10 nicht geeignet ist, das zu erreichen, was er gesetzlich soll. Das Gesetz will eine bessere Kontrolle der Abrechnung der Ärzte. Es sagt nicht: Verbesserung der medizinischen Statistik, Verbesserung der wissenschaftlichen Unterlagen. Aber für die Abrechnung brauche ich einen Großteil der Feinheiten dieses Schlüssels nicht. Etliche Dinge haben einfach nichts darin zu suchen.

Welche zum Beispiel?

Das Kapitel V des ICD 10 beschäftigt sich etwa mit psychischen und Verhaltensstörungen, dort werden z.B. auch Sexualpräferenzen angegeben. Ist es aber für die Begründung einer Abrechnungsposition wirklich nötig, daß ein Psychiater „Mangel oder Verlust des sexuellen Verlangens“ oder „Transvestitismus“ auflistet? Warum reicht da nicht die allgemeine Umschreibung „sexuelle Funktionsstörung“. Ein anderes Beispiel: Eine Diagnose für einen Patienten, der den Arzt morgens aus bleichen Augen anguckt und sagt: mir ist schlecht, und der Arzt meint, wir haben Föhn, die erfaßt der ICD gar nicht. Da wird aus einem Verdacht auf Kreislaufschwäche eine Kreislauferkrankung.

Eine undifferenzierte Diagnose, die den Patienten kranker macht, als er ist, wäre ja vor allem ein medizinisches Problem. Was stört sie als Datenschützer daran?

Dem Patienten wird ein unrichtiges Datum zugeordnet, und das geht auf die Strecke — an die Kassenärztliche Vereinigung, die die Daten patientenbezogen bekommt, und wenn eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt wird, auch patientenbezogen an die Krankenkasse. Der Mensch als Patient darf aber nicht im Interesse von übergeordneten gesundheitspolitischen Zielen mit unrichtigen Daten belastet werden.

Ärzte warnen vor dem „gläsernen Patienten“. Ein Schreckgespenst?

Nach der jetzigen Gesetzeslage gibt es den gläsernen Patienten nicht, aber je computergerechter Daten aufbereitet werden, desto größer ist das Risiko, daß Begehrlichkeiten geweckt werden. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt in der Gesetzgebungstechnik, und der Zugriff ist erlaubt. Da brauchen die Krankenkassen gar nicht gegen ihren gesetzlichen Auftrag zu verstoßen, da gibt es vielleicht irgendwann einfach den politischen Wunsch, diese schönen Datensammlungen, die nun einmal da sind, anders auszuwerten.

Welche Mißbrauchsmöglichkeiten wären denkbar?

Ein Beispiel: Die Bundesrepublik hat einen relativ hohen Krankenstand, und keine Bundesregierung wäre abgeneigt, bessere Statistiken über die Krankheiten zu bekommen, die zu Krankschreibungen führen. Dabei kann man regionale Schwerpunkte setzen, und irgendwann habe ich dann einen Überblick über sämtliche Patienten mit Kreislauferkrankungen im Zusammenhang mit übermäßigem Nikotin- oder Alkoholgenuß. Der nächste Schritt heißt dann: An diese Patienten wird nur noch gekürztes Krankengeld bezahlt. Das Risiko ist: Die Struktur wird immer gradliniger und einfacher für Auswertungen.

Und für Mißbrauch?

Bisher gibt es noch keine vernetzten Verbindungen zwischen Arzt, Kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkasse. Aber ich halte es nicht für unrealistisch, daß in fünf Jahren etwa 50 Prozent der niedergelassenen Ärzte online mit ihren Kassenärztlichen Vereinigungen verbunden sind. Und wie wollen sie bei über 100.000 niedergelassenen Ärzten in der Bundesrepublik garantieren, daß diese Verbindungen auch sicher ablaufen? Es wird viel Arbeit kosten, die Verfahren so zu organisieren, daß die Ärzte ein besonders verschlüsseltes Verfahren anwenden, damit diese hochsensiblen Daten vor dem Zugriff Außenstehender sicher sind.

Was ist zu tun?

Unsere Forderung ist, daß der Schlüssel ausgesetzt wird. Wirklich ausgesetzt und nicht nur, wie es im Moment ist, die Anwendung den Ärzten freigestellt wird. Die vielen, möglicherweise unrichtigen Daten dürfen gar nicht erst entstehen. Der Diagnoseschlüssel muß überarbeitet und in großen Teilen massiv verkürzt werden. Interview: Vera Gaserow