Sie riechen doch schon ein bißchen

Wenn man tot ist, tut nichts mehr weh: „Guantanamera“, Tomás Gutiérrez Aleas Liebeskomödie mit Leichen  ■ Von Thomas Winkler

Fünfzig Jahre waren sie getrennt, fünfzig Jahre haben sie sich geliebt. Kann Liebe ein halbes Jahrhundert überdauern? Im Kino kann sie, und deshalb gucken sich Yoyita und Cándido nach 50 Jahren einmal tief in die Augen, und sie wissen es und wir wissen: Die Liebe, die große, wahre, echte, die dauert ein Leben lang. Mindestens. Und dann ruht die Kamera fast bedauernd auf ihren fleckig- braunen Händen, als die sich berühren, zum ersten Mal nach 50 Jahren, und dann fällt der Kopf von Yoyita zur Seite, als wollte sie schlafen, und dann ist sie tot. Jetzt geht's erst richtig los, denn die Frage, die sich so aufdrängte, die steht doch nicht zur Diskussion. Erst durch ihre überraschende Transformation in einen anderen Daseinszustand entwickelt sich Yoyita zum Motor der Handlung. Sie persönlich ward zwar nicht mehr gesehen, aber der Sarg, in dem sie ihr Grab erreichen soll, dient fortan als Klammer für mehrere Geschichten, die sonst drohten, auseinander zu treiben.

Von Guantánamo im äußersten Südosten Kubas aus muß der Sarg nach Havanna überführt werden. Die gleiche Route befährt ein Lkw. An Bord dieser beiden Fahrzeuge finden sich fast penetrant typisierte Protagonisten, die im Laufe des Films die kubanische Gesellschaft spiegeln sollen. Jeder und jede von ihnen erzählt eine andere Geschichte von Kuba. Da wäre Cándido, der mit seiner zurückhaltenden Höflichkeit für das untergegangene, vorrevolutionäre Kuba steht und Probleme hat, sich nun zurechtzufinden. Jahrelang hat er gehofft, daß seine Liebe zurückkehrt. Nun reist er mit dem Sarg. Jahrzehntelang war die Hoffnung verschwindend klein, nun ist sie tot – der Unterschied ist kein so gewaltiger. Einmal wird Cándido geschlagen, er wehrt sich nicht. Er wird sterben, recht friedlich, und als es passiert, ist es, als hätte man es die ganze Zeit schon gewußt.

Tony fährt den Leichenwagen. Er stopft den Wagen voll mit Lebensmitteln, die er unterwegs für US-Dollars kauft, um sie in Havanna für Dollars wieder zu verkaufen. Mit Gewinn. Er wird noch viele Särge begleiten, wenn auch mit jeweils wechselnden Insassen. Egal, wer im Sarg liegt, Tony macht immer seinen Schnitt.

Adolfo, der Beerdigungsbeamte, fährt auch mit dem Sarg. Er will anhand der Überführung die Wirtschaftlichkeit eines von ihm entwickelten Planes beweisen. Der Plan ist hirnrissig, jeder weiß es, keiner sagt es. Adolfo ist ein Bürokrat. Er wird den Sarg nach Havanna bringen, ganz bestimmt, soviel ist schon mal sicher. Fragt sich nur, wie lange es dauert. „Wenn man tot ist, tut einem nichts mehr weh“, weiß Adolfo. Aufgrund des Planes muß die Leiche in jeder Provinz den Wagen wechseln: Zuerst ist es ein Cadillac, dann eine russische Limousine, die Autos werden immer klappriger.

Gina ist die Nichte der Toten und verheiratet mit Adolfo. Irgendwann wird sie umsteigen in den Lastwagen. Und wieder einsteigen in den Leichenwagen. Oder doch nicht.

Was der Lastwagen transportiert, ist unklar. Mal dies, mal das, mal Menschen, mal verbotenerweise illegal produzierte Waren. Auf jeden Fall transportiert der Lkw keine Särge. Auf jeden Fall befördert er Mariano und Ramon, die sich ausgeklinkt haben aus der Gesellschaft, soweit sie wollten, oder soweit das möglich war.

Im Leichenwagen gibt es Streit, im Lkw weiß man nicht so recht, was das alles überhaupt soll. Im Leichenwagen trägt man trostlos blaue Hemden aus heimischer Produktion, im Lkw hängen Goldkettchen an allen verfügbaren Körperteilen. Im Leichenwagen hat man keinen Sex mehr, im Lkw hat zumindest einer zuviel davon.

Für den kleinen, aber über die Maßen erfolgreichen „Erdbeer und Schokolade“ hatte sich das Regie-Gespann Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabio ein kleineres Segment der kubanischen Gesellschaft herausgefischt. Zwar war auch die homosexuelle Geschichte mit Gesellschaftskritik überladen, aber funktionierte ahnungsloser, war leichter als Komödie zu haben. In „Guantanamera“ bleibt vieles steif, trotz einiger oft sogar ins slapstickhafte lappender Szenen. Und die sind vielleicht gar nicht so gemeint: „Wir haben die absurden Dinge nicht erfunden“, erzählt Alea, „sie sind Teil unserer alltäglichen Realität.“

Natürlich war Alea der einzige, der einen solchen Film hätte drehen können. Er hat zusammen mit Castro studiert, war nach der Revolution Mitbegründer des I.C.A.I.C., des zentralen Organs für Filmproduktion und -verleih, und hat in den 60er Jahren mit „La Muerte de un bucrata – Tod eines Bürokraten“ und „Memorias del subdesarollo – Erinnerungen an die Unterentwicklung“ quasi im Alleingang dem kubanischen Film eine Reputation verschafft, die er später nur noch selten einlösen konnte. Auch Alea selbst nicht. Seine Träume sind die aus den 60ern geblieben. Diesmal geht der Traum, den Alea und Tabio träumen, gut aus. Leichenwagen und Lastwagen fahren weiter, aber immerhin, die Liebenden fallen sich in die Arme. Der Regen wäscht alle Spuren weg.

„Guantanamera“. R: Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabio; B: Alea, Tabio und Eliseo Alberto Diego; K: Hans Burmann; D: Carlos Cruz, Mirtha Ibarra, Raúl Eguren, Jorge Perugorria, Pedro Fernández u.a.; Spanien, Kuba, BRD 1995, 101 Min.