: Strahlenfeste Niedersachsen
Umweltministerium deutet die Gefahren von Neutronenstrahlen so, daß Castor-Transporte wieder möglich werden ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Die niedersächsische Polizei will mit ihren Heerscharen wieder Castortransporte ins Gorlebener Zwischenlager begleiten. Das Innenministerium hat gestern das Moratorium für die Atommültransporte, das sie wegen der Gefahren der Neutronenstrahlung der Behälter verkündet hatte, für beendet erklärt.
„Für die bei Castor-Transporten eingesetzten Beamten hat keine gesundheitliche Gefährdung bestanden und wird auch in Zukunft keine Gefährdung bestehen“, verkündete gestern der Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums und machte sich eine vom niedersächsischen Umweltministerium jetzt erstellte Bewertung der Risiken von Neutronenstrahlung zu eigen. An dieser neuen „Einschätzung über die Belastung durch Neutronenstrahlen“ hatte das Umweltministerium monatelang gearbeitet, und dies mit einem überraschenden Ergebnis: Nach Auffassung des Hauses Griefahn entspricht der von der Internationalen Strahlenschutzkommission (IRCP) im Jahre 1990 festgelegte Wert für die biologische Wirksamkeit von Neutronenstrahlen noch „dem Stand der Wissenschaft“. Als zwanzigmal wirksamer und damit gefährlicher als Röntgenstrahlen hatte die IRCP die Neutronenstrahlen eingestuft. Der Marburger Professor Horst Kuni, der die Diskussion um die Neutronengefahr um den Castor vor einen halben Jahr ausgelöst hatte, geht allerdings davon aus, daß Neutronenstrahlen etwa dreihundertmal wirksamer als Röntgenstrahlen sind. Diese Auffassung von Kuni hatte sich auch der Kernenergiebeirat im niedersächsischen Umweltministerium weitgehend zu eigen gemacht. Selbst der Kernenergie keineswegs feindlich gesonnene Experten waren bei einer öffentlichen Anhörung des Umweltministerium noch davon ausgegangen, daß Neutronenstrahlen etwa vierzig- bis fünfzigmal wirksamer als Gammastrahlen sind.
Dies alles hat das Umweltministerium nun vom Tisch gewischt. „Das uns vorliegende „Material hat keine schlagkräftigen Belege dafür ergeben, daß der Faktor 20 nicht angemessen ist“, erklärte das Umweltministerium gestern. Dieser Faktor 20 für die Wirksamkeit von Neutronenstrahlen findet sich auch in den Empfehlungen der EU zum Strahlenschutz. Schon beim ersten Castor-Transport ins Gorlebener Zwischenlager hatte Niedersachsen bei der Abschätzung der Gefahren für die Polizei den von der EU empfohlenen Wirkungsfaktor 20 zugrunde gelegt und war zu dem Ergebnis gekommen, daß sich ein Polizeibeamter bis zu elfeinhalb Stunden in der Nähe des Behälters mit dem hochradioaktiven Müll aufhalten dürfe.
Im Umweltministerium sei nur vordergründig wissenschaftlich über die Neutronenstrahlen diskutiert worden, in Wahrheit sei eine politische Entscheidung gefallen, erklärte der Sprecher der BI Lüchow-Dannenberg gestern. Der Hintergrund dieser Entscheidung sei klar, denn bei einem Wirkungsfaktor von 50 der Neutronenstrahlung sei „das Castor-Konzept im Eimer“.
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