Keine Chancengleichheit an Gesamtschulen

■ Kritische Pädagogen fordern einen radikalen Umbau des Schulkonzeptes

Düsseldorf (taz) – Einst galt die integrierte Gesamtschule auch Ulrich Sprenger als die „faszinierendste Idee der Pädagogik“. Mit ihr, so hoffte der vom Gymnasium zu einer Gelsenkirchener Gesamtschule gewechselte leidenschaftliche Pädagoge, werde die Durchsetzung von mehr Chancengleichheit für alle Schüler möglich. Doch die Hoffnung ist dahin.

Sprenger, seit zwei Jahren pensioniert, ist inzwischen zu einem Kristallisationspunkt der bundesdeutschen Gesamtschulkritiker geworden, die in der Gesamtschule eine „pädagogische Fehlkonstruktion“ sehen. Am Ende der Reformbemühungen stehe eine Schule, die sich „immer deutlicher als ein nicht zu haltendes Versprechen“ erwiesen habe und die die „gesellschaftliche Ungleichheiten verstärke“, statt sie abzubauen.

Gestern bekamen alle LänderkultusministerInnen Post von Sprenger und dem von ihm ins Leben gerufenen „Arbeitskreis Gesamtschule“, dem mehr als hundert Gesamtschulpädagogen angehören. In dem achtseitigen Schreiben werden die Schulpolitiker aufgefordert, endlich darzulegen, wie sie die „pädgogischen Probleme“ der Gesamtschule lösen wollen. Die Kritiker sind sich sicher, daß die Gesamtschulen den „allgemeinen, alle Schulformen betreffenden Erziehungsnotstand durch einen Beziehungsnotstand noch verschärfen“. Die Kritik tut weh. Davon zeugen die reflexartigen Reaktionen vieler linker Gesamtschullehrer, die die Kritiker als konservative Bildungsideologen zu denunzieren suchen. Im Kreise „der rechtskonservativen Medien“, schreibt etwa Wolfgang Große- Brömer, Leiter einer Gesamtschule in Oberhausen, sei der Arbeitskreis „ja auch dankbar erwähnt worden“.

Weiter helfen solche Repliken nicht. Dafür sind die Probleme zu virulent. Eine realistischen Eindruck vermitteln selbst manche behördeninterne Papiere. So etwa ein noch nicht veröffentlichtes Gutachten aus der Hamburger Schulbehörde. Der für die 32 Gesamtschulen der Stadt zuständige Oberschulrat Riekmann kam schon 1990 zum Ergebnis, in den Gesamtschulen könnten „Schüler mit ,gymnasialer Befähigung‘ kaum noch angemessen gefördert werden“. Die Konkurrenz der Schulformen habe dazu geführt, daß in den fünften Klassen der Gesamtschulen von „einer Vereinzelung leistungsstarker Schüler“ gesprochen werden müsse.

Fünf Jahre später, schreibt Hans Dall, seit 14 Jahren Gesamtschullehrer in Hamburg, habe sich an Riekmanns Lagebeschreibung nichts geändert. Dessen Einschätzung decke sich mit der vieler Gesamtschullehrer, die deshalb auch „ihre eigenen Kinder lieber aufs Gymnasium schicken“. Ein bitteres Fazit eines Insiders, der eine Zukunft für die Gesamtschule nur sieht, wenn sich ein „radikaler Wandel“ in Richtung „kooperative Gesamtschule“ vollzieht.

Gemeint ist damit eine Schule, die unter einem Dach schulformbezogene Klassen, also Haupt-, Real- und Gymnasialklassen, vereint. In der Gesamtschule Kirchhain in der Nähe von Marburg will man diesen Weg mit Genehmigung der hessischen Schulbehörde ab dem nächsten Schuljahr konsequent gehen. Vom Lernen in einer festen Bezugsgruppe mit relativ einheitlichem Leistungsniveau erhofft man sich eine doppelte Problemlösung. Einerseits sollen alle SchülerInnen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit „so besser gefördert werden können“, anderseits könne damit der „Heimatlosigkeit“ durch das Lernen in relativ festen Klassen begegnet werden. In diese Richtung, da ist sich auch Ulrich Sprenger ziemlich sicher, müssen sich die Gesamtschulen verändern, wollen sie nicht als „besonders teure Hauptschulen“ enden. Walter Jakobs