Zombies aus den Alpen

■ Für ihren Splatter-Text „Die Kinder der Toten“ erhält Elfriede Jelinek heute en Bremer Literaturpreis – und setzt damit lokale Tradition fort

Wer zum Teufel ist Elfriede Jelinek? Vermutlich weiß sie es nicht einmal selbst. Und will es auch nicht wissen. Perfekt hingegen zu jeder Neuveröffentlichung eines Jelinek-Buches der radikale Imagewechsel der Autorin. Tauchten gestern noch sorgsam gestellte Fotos einer damenhaften Jelinek im Kostüm auf, präsentierte sie sich zum Erscheinen des ersten feministischen Pornos „Lust“ in schwerer Lederjacke und mit zu Teufelszöpfchen gedrehten Haaren. Doch der Identitätswechsel ist keine Modenschau. Weiteres Futter für Skandale liefern Interviewaussagen, in denen die Autorin von Selbstverletzungen mit der Rasierklinge spricht oder sich ans Bett gefesselt von einer Photographin ablichten läßt. Permanente Inszenierung eines „coming out“ als Rollenangebot für den gierigen Medienzirkus. Was Lady Di für die Gesellschaftsspalten darstellt und Madonna für die Popmusikszene durchgesetzt hat, mußte Elfriede Jelinek sich nicht erst abschauen. Sie verbirgt schon seit 25 Jahren chamäleonhaft ihr wahres Selbst vor der Öffentlichkeit, der sie immer noch eine weitere Inszenierung ihrer Identität zu bieten hat.

Mit geradezu brennender Intensität wendet sich die 49-jährige in „Die Kinder der Toten“ einmal mehr der in Haß/Liebe verbundenen Heimat zu. Österreich, dem schon immer ihre gnadenlose Wut gilt, rückt jetzt ins Zentrum des Heimatromans. Rechtzeitig zu den letzten Wahlen, bei denen sie von Jörg Haider angefeindet wurde, wendet Jelinek die bislang persönliche Anklage in größere Dimensionen. Das Entsetzen gilt dem Verhalten der Landsleute im Dritten Reich und thematisiert – anders als bei der unbestreitbaren Schuldhaftigkeit der deutschen Nation – in Österreich ein gruseliges Zwischenwesen aus Unschuldsbeteuerung und Täterschaft. Als angewandte Verdrängungsarbeit entlarvt ihre These die sprichwörtliche österreichische Gemütlichkeit, auf die der Nationalcharakter so stolz ist. Die provokante Zuspitzung liest sich so: „Wir definieren uns nur durch unsere Toten, durch die, die wir ermordet haben. Wir wandeln ein Leben lang über Massengräber, die dicht unter der Erdoberfläche lauern.“

Angetrieben hat die 1946 geborene dabei die eigene zwiespältige Geschichte. Schließlich ist der Vater Jude, hat in der Kautschukforschung für die Nazis gearbeitet. Nachdem Elfriede Jelinek jahrzehntelang ihr radikal gesellschaftskritisches Schreiben den Themen Weiblichkeit, Sexualität und Kreativität gewidmet und in „Lust“ die schlimmsten Untiefen in der geschlechtlichen Demütigung der Frau durch den Mann entdeckt hatte, geht sie jetzt einen Schritt weiter: barocke Todesallegorien gegen Todesvergessenheit und Geschichtsverdrängung. Neben die schreckliche Jelineksche Wahrheit: „Sexualität ist Gewalt. Und nur die Frauen wissen das“, tritt jetzt eine andere Enträtselung der Triebe. Auch im Reich der Toten endet das wollüstige Begehren nicht, gibt es keine Ruhe vor der immerwährenden Unruhe des Fleisches.

Mit ihrem neuen Buch „Die Kinder der Toten“ balanciert sie auf einem anderen Grat. Galt die Grenze zwischen Leben und Tod bislang als die letzte verbliebene Barriere, von der es kein Zurück mehr gibt, so wagt Österreichs berühmteste Schriftstellerin, wie schon in „Krankheit oder moderne Frauen“ nun einen Blick über die Totenmauer - und kehrt mit beunruhigenden Neuigkeiten von dort zurück. Die Toten werden wieder zum Leben erweckt und dürfen unter den Untoten im obersteirischen Luftkurtort Mariazell, in der Pension Alpenrose noch einmal erleben, woran sie schon vor ihrem Ableben litten: dem falschen Leben im Falschen. Deutlich wird das in imposanten Textkonvoluten und makaberen Katastrophenphantasien, die aus einem Splatter-Film stammen könnten. Wenn es in der Alpenrepublik Unfälle gibt, dann spritzen aus den umgestürzten Kleinbussen die Leiber heraus. Doch auch wenn die Kritiker stöhnen über Jelineks Mammutwerk, das mit 667 Seiten nicht nur einen gewaltigen Umfang und stilistisch schwer zu verdauen ist: die unbequeme Autorin bleibt sich treu. Radikalität ist ihr oberstes Gesetz. Und ihr Österreich ist nicht das der Alpenkulisse, auf die ein Urlaubssonne scheint, sondern eine Totenlandschaft, in der immer noch die abgeschnittenen Haare der Vergasten unter der Scholle liegen. Nun gilt es die letzten Tabus zu brechen, literarische Nekrophilie scheint da nicht ungeeignet.

Jelineks Untote, diese Zombies der Jetzt-Zeit, haben einen oder mehrere Tode hinter sich und finden dennoch nicht zur ewigen Ruhe. Ohne Gedächtnis und außerhalb der Zeit treiben sie es mit jedem und jeder in endlosen Orgien. Obszön wird das Szenario, das in seiner Besessenheit und Fühllosigkeit oft an die Personengruppen eines Marquis de Sade erinnert, durch den Einbruch äußerster Banalität. Da tauchen Menschen auf wie die Philosophiestudentin Gudrun Bichler, die sich im Examensstress die Pulsadern aufschneidet, eine Karin Frenzel, die offensichtlich eine ungelöste Mutter-Bindung hat und sich in ihrem Männerhaß in Kannibalismus und Kastration hineinsteigert. Oder das ehemalige Ski-As der Nationalmannschaft, Edgar Gstranz, der, wie Rudi Nierlich im wirklichen Leben, im Suff sein Auto ins Jenseits steuerte und nun bei Jelinek auf einer österreichischen Sommerwiese zwanghaft onanieren muß.

Doch die Autorin aus dem Ferienparadies Österreich konstruiert nicht nur krude handlungsarme Texte. „Ich habe nur diesen einen polemischen Zugriff auf die Wirklichkeit, die ich aber mit der Sinnlichkeit der Sprache aufarbeiten muß“, sagt Jelinek. Und in der Tat funktioniert die Textmaschine ihrer Bücher nur streckenweise über Sinnzusammenhänge. Entscheidender sind die Assoziationen, die sich über die Sprachbilder herstellen. Da verbindet sich Fremdes mit Fremden, das so nicht zusammenwächst, sondern im Witz explodiert. Überraschende Kombinationen entstehen aus reinen Lautassoziationen, die sich phasenweise in höchst komische Höhen schwingen. Schwer zu lesen seien die 667 Seiten des neuen Romans, klagen die Kritiker. Und höchsten 3-Seiten-weise zu ertragen. Doch vielleicht macht das gar nichts. Hiermit sei ein Trick aus den Jelinek-Insiderkreisen verraten; laut Lesen heißt die Devise.

Die Bremer haben, was das angeht, mit ihrer Literaturpreisträgerin Glück. Am Freitag treten die Schauspieler des Bremer Theaters zu einem „Lesemarathon“ an: laut Lesen zum Zuhören.

Susanne Raubold