Die sieben Leben der Marchstraße

Besetzer zwischen dem Einsteinufer und der Marchstraße befürchten nach Räumungsurteilen mal wieder das Aus. Bezirk Charlottenburg ist für Legalisierung der seit sieben Jahren besetzten Häuser  ■ Von Gereon Asmuth

Klingel oder gar Namensschilder sucht man vergeblich auf dem Gelände zwischen Einsteinufer und Marchstraße. Die seit sieben Jahren besetzten Häuser sind verschlossen, erst auf beständiges Rufen öffnet sich die Tür. Im Treppenhaus hängen die Reste von Barrikaden. Hier hat die Polizei ganze Arbeit geleistet bei einer Hausdurchsuchung Mitte Dezember. Sie nahm neben zwölf BewohnerInnen und Gästen wegen angeblicher Verstöße gegen das Ausländergesetz auch Unmengen von Holz und Eisen mit, die ungewollten Besuchern den Zugang erschweren sollten. Nach einer Woche wurden die Inhaftierten wieder freigelassen.

„Die haben Glück gehabt, daß sie keine Rumänen oder Vietnamesen sind“, meint Luna, langjähriger Bewohner der Marchstraße, der den Polizeibesuch als Räumungsvorbereitung sieht. „Die haben alles detailliert gefilmt und geguckt, ob unsere Bauwagen fahrbereit sind, so daß man sie wegziehen kann.“ Nach vierjährigem Prozeß hat die Hauseigentümerin, die Henning, von Harlessem & Co. GmbH, Räumungsurteile gegen zehn BewohnerInnen erwirkt, die kommenden Mittwoch fällig werden. Drei weitere sind auf Ende Februar datiert.

Im Dezember 1988, während des damaligen Studentenstreiks, organisierten Wohungsnot-Inis eine erste Besetzung des jahrelang leer stehenden Hauses am Einsteinufer. Der schnellen Räumung folgte die Zerstörung des bis dahin intakten Gebäudes. „Die haben bestimmt für 'ne Millionen kaputtgeschlagen“, schätzt die Besetzerin Lara. Die Eigentümerin spekulierte offensichtlich auf den Bebauungsplan, der das Gelände als Ausbaufläche für die umliegenden Universitäten auswies.

Anfang 1989 errichteten die Inis erste Hütten zwischen den Häusern. „So galten die Häuser schon als besetzt, bevor wir drin waren. Sie waren sogar Thema der Koalitionsverhandlungen für den rot- grünen Senat“, erinnert sich Luna an die Anfangszeit. „Wirklich besetzt haben wir erst im März 89, nachdem der Bezirk die erste Abrißgenehmigung erteilt und die Eigentümerin die letzten Mieter aus der Marchstraße vertrieben hatte.“

Trotz folgender Verhandlungen wurde vier Monate später eine „kalte Räumung“ versucht. Nach einer Hausbegehung durch die Baupolizei sollten die BesetzerInnen nicht wieder ins Haus, da dessen Zustand nicht den Bauvorschriften entspreche. „Statt dessen saßen wir danach erst mal fest im Sattel“, freut sich Luna noch heute über die gelungene Gegenaktion. „Gefährdete Bereiche hatten wir vorher selbst gesperrt. Dann waren etwa 200 Leute vorm Haus, inklusive Presse und Bürgermeisterin. Wir haben allen erst mal ein Megaphon in die Hand gedrückt, sie mußten begründen, warum sie hier sind. Als ein befreundeter Architekt dann noch feststellte, daß die Beanstandungen bis zum Abend geregelt werden könnten, hat sich sogar der damalige Geschäftsführer der Eigentümerin verplappert und gesagt, daß wir reindürften, wenn es ihn nichts kosten würde.“

Eine Änderung des Bebauungsplans sollte Wohnnutzung auf dem Gelände ermöglichen. Die Eigentümerin drängte Mitte 1990 jedoch erneut auf polizeiliche Räumung, Innensenator Erich Pätzold (SPD) lehnte aber ab. Die Bewohner seien schon zu lange in den Häusern. Darauf zog Henning, von Harlessem & Co. vor Gericht. „In den ersten anderthalb Jahren haben wir die offiziellen Stellen dazu gebracht, für uns zu arbeiten, aber als dann die Prozesse anfingen, zogen sich alle zurück“, kritisiert Lara. Der Bebauungsplan blieb im Senat stecken. Auch in der Szene gab es weniger Druck. „Viele Unterstützer haben nach der Maueröffnung selbst im Osten besetzt, wir waren ganz schön sauer, daß im Westen nichts mehr lief.“

Die Prozesse boten neue Möglichkeiten, die UnterstützerInnen zu mobilisieren, aber auch Zeit für andere Projekte. „Knastkundgebungen, Infoveranstaltungen zu Kurdistan, Antifa-Arbeit, Aktionen mit MieterInnen anderer Häuser“, zählt Luna auf. „So ein Haus bietet Platz für viele Inis ohne Kohle. Außerdem ergeben sich direkt vor Ort viele Kontakte, ganz einfach, weil wir auf einem Fleck zusammenwohnen.“

Über die Marchstraße führt, so Luna, „der Trampelpfad der Obdachlosen vom Zoo zur Übernachtungsstelle in der Franklinstraße“. Viele von ihnen sind vorübergehend in den besetzten Häusern gestrandet. „Bis heute haben wir durch die Vielfalt von Wohnmöglichkeiten niemanden aus Platzgründen ablehnen müssen“, erzählt Lara. Punks, Studis, Leute mit fester Arbeit, vom Baby bis zum über 60jährigen – die Bewohnerschaft ist breit gefächert. Bei der Meldebehörde und beim Sozialamt wurde die Marchstraße zur anerkannten Größe. „Wenn wir unsere sozialdemokratische Linie fahren“, meint Besetzer Luna, „sagen wir immer, daß wir schaffen, was die Politiker nicht auf die Reihe kriegen. Junkies sind hier wieder hochgekommen, weil sie einen festen Platz gefunden haben.“ Einige Projekte, etwa eine Kita, scheiterten jedoch an der Unsicherheit der Häuser. Auch ins hauseigene Café Vamos will niemand investieren. Zu groß ist das Risiko, Frischaufgebautes durch eine Räumung zu verlieren.

Lara hat in den sieben Jahren nie länger als ein Dreivierteljahr nach vorn gedacht. „Illegal zu leben“, heißt es in einem Flugblatt, „bedeutet das Risiko, morgens von einem Räumkommando geweckt zu werden und hinterher obdachlos zu sein.“ Die Räumungsurteile gegen 13 BewohnerInnen der Marchstraße verstärken diese Befürchtung. Zwar wurden gleichlautende Urteile am Einsteinufer bereits im Sommer 1994 ohne bleibende Wirkung vollstreckt. Auch die jetzigen Urteile hätten, so Luna, nur wenig mit der Realität zu tun. Viele der Beklagten wohnen längst nicht mehr dort. Trotzdem befürchten die BewohnerInnen, daß diesmal das endgültige Aus bevorsteht, da die Eigentümerin alle Prozesse gewonnen hat.

„Alles, was wir wollen, ist eine einfache Instandsetzung ohne Modernisierung“, fordert Luna. „Hier war billiger Wohnraum, und den wollen wir wieder.“ Neue Hoffnung kommt diesmal aus dem Bezirksparlament. Die Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg hat sich gegen eine Räumung ausgesprochen. Die neue Baustadträtin, Beate Profe (Bündnis 90), will die Bebauungsplanänderung wieder vorantreiben und die BewohnerInnen legalisieren. Derzeit gibt es keine Abrißgenehmigung, und auch eine Planung für das Gelände liegt nicht vor. „Es wäre absurd, 70 Leute auf die Straße zu schmeißen, und hier liegt alles jahrelang brach“, meint Luna.