Lübeck

■ betr.: „Fürchterlicher Verdacht ist begründet“, „Trügerische Selbst heilung“, Kommentar von Vera Gaserow, taz vom 19. 1. 96, „Am Ende der Geduld“, Kom mentar von Jürgen Gottschlich, taz vom 20./21. 1. 96, „Der Mörder kam nicht von draußen“, taz vom 22. 1. 96, „Urteile und Vor-Ur teile“, Kommentar von Christian Semler, taz vom 23. 1. 96

Daß schockierte Studenten schnell auf die Straße gehen, wenn Menschen verbrennen, kann ich noch verstehen. Peinlich wird es allerdings, wenn Zeitungsredakteure, die ja im allgemeinen mehr Zeit zum Nachdenken haben, nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß im Fall Lübeck noch nicht einmal die Brandursache geklärt ist.

[...] „Fürchterlicher Verdacht ist begründet“, lautet die Überschrift, und in dem Artikel selber ist dann doch nur noch von „Tatverdacht“ die Rede. [...] Ich weiß nicht, was ich widerlicher finden soll; den dumpfen Fremdenhaß oder diese miese Vorverurteilung möglicherweise Unschuldiger, die ja auf ach so hehren Idealen beruht und wohl nur deshalb möglich ist. Wer braucht hier eigentlich den Terror? F. Bauer, Hamburg

Natürlich waren wir alle schockiert, als die Nachrichten das Unglück von Lübeck meldeten. Und natürlich verdienen die Überlebenden unsere Solidarität. Daran ändert sich nichts, nur weil es diesmal keine durchgeknallten DDR- Skins waren, die gezündelt haben. Aber genauso schockierend war die geifernde Bereitschaft der Presse und selbsternannter Moralapostel, die von vorneherein von bösen Nazitaten ausgingen, ohne auch nur für einen Augenblick andere Möglichkeiten ins Auge zu fassen. [...] H. Wichlatz

Etwas mehr Abstand zu den Ermittlungsergebnissen und Verlautbarungen der Lübecker Staatsanwaltschaft scheint meines Erachtens angebracht zu sein.

[...] Ob denn der Feuerwehrmann alles richtig verstanden hat, der junge Libanese sich in einer (und seiner) emotional sicherlich enorm belasteten und belastenden Situation so hat verständlich machen können, daß seine Schuld zum gegenwärtigen Stand der Ermittlungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkleit bewiesen werden kann, bleibt abzuwarten. [...] Berichte sollten sich an Fakten und nicht an Wunschdenken orientieren. Auch sollten Berichte nicht mit Schlagzeilen versehen werden, deren Aussagen einer Festschreibung gleichkommen. Auch inhaltlich partizipieren JournalistInnen oftmals eben nur von Ermittlungsergebnissen, die nicht in jedem Fall der Realität entsprechen müssen. [...]

In jedem Fall bleibt ein Unbehagen. Die nun zu erwartende Diskussion wird sich – allen Mahnungen zum Trotz – daran orientieren, die mehr als legitime Unschuldsvermutung zu instrumentalisieren und hierdurch die bisher in diesem Land begangenen Taten gegen Nichtdeutsche „in einem anderen Licht“ erscheinen zu lassen. H. Schnaars

Was in den Kommentaren von Vera Gaserow und Jürgen Gottschlich geboten wird, ist reines Bild-Zeitungsniveau. Niemand der Ermittler weiß etwas, aber für die Kommentatoren steht fest: Erstens sind es Morde aus der echten Szene! Sollte es sich zweitens leider herausstellen, daß ein Unglücksfall ohne Brandstiftung vorliegt, dann leben die Flüchtlinge selbstverständlich in solch desolaten Objekten, die zwangsweise irgendwann abbrennen müssen ... nach einem kleinen Zimmerbrändchen. Nun stellt sich heraus, daß Hausbewohner, die miteinander im Streit lagen, den Brand selbst legten.

Was für ein Schlag, auch für die taz. Guter Rat ist teuer. Nicht einmal multikulturelles Miteinander zwischen den Flüchtlingen? Aber da liegt doch gleich die Lösung für den nächsten Kommentar: Es mußte ja so kommen. Wieder hat der Staat versagt. [...] Jürgen Stolte, Mehlbach

Das Transparent „Die Brandstifter sitzen auch in Parlamenten, Parteien und Amtsstuben“ auf einer Bremer Mahnwache für die Opfer des Brandanschlags weist auf Mitverantwortliche hin. Warum werden 40 Flüchtlinge in ein Haus am Stadtrand untergebracht, anstatt sie dezentral unter anderen Menschen leben zu lassen? Warum gibt es überhaupt immer noch Massenunterkünfte, wie in Bremen die Flüchtlingsschiffe? Warum sind die Häuser schlecht ausgestattet und baufällig und dadurch leicht brennbar? Wenn schon Massenunterkünfte – warum werden diese nicht rund um die Uhr bewacht? Warum herrschen immer noch menschenunwürdige Zustände in Abschiebegefängnissen, wie zum Beispiel im Ostertor? Warum wird bei Nacht und Nebel der kurdische Kulturverein Hevalti von Polizisten überfallen und zerstört? Warum verwandelt sich Europa in eine Festung gegen Flüchtlinge? Warum wurde der Artikel 16 Grundgesetz („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) beseitigt. Die Verantwortung dafür tragen Parlamente, Minister, Senatoren, Sozial- und Polizeibehörden. Ernst Busche, Bremen