■ In einem offenen Brief teilt der russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow seinen endgültigen Bruch mit Präsident Boris Jelzin mit. Und rechnet mit dessen Politik ab:
: „Ich habe mich getäuscht“

Herr Präsident!

Sechs Jahre habe ich es als meine Pflicht angesehen, mit vollem Einsatz jene Politik zu unterstützen, die man, mit gewissen Vorbehalten, als demokratische Umgestaltung Rußlands bezeichnen kann. Lange war diese Politik eng mit Ihrem Namen verknüpft. Solange Sie diesen Kurs beibehielten, war ich Ihr Verbündeter, wo Sie von ihm abwichen oder das Tempo drosselten, Ihr loyaler Gegenspieler.

Der Weg Rußlands in die Freiheit war erwartungsgemäß nicht leicht. Einige Schwierigkeiten waren schon vorher offensichtlich, andere tauchten unerwartet auf. Um sie zu überwinden, mußten wir alle – der Staat, die Gesellschaft und jeder einzelne – schwierige, ja sogar tragische Entscheidungen treffen. Das Wichtigste, was das Land von Ihnen erwartete, war der Wille zu Veränderungen und Aufrichtigkeit. Als Rußland Sie wählte, sah es in Ihnen nicht nur den Politiker, der dazu bereit war, mit dem alten Staat zu brechen. Sondern auch den Menschen, der sich wirklich bemühte, sich selbst zu verändern, seine Ansichten, Vorlieben und Machtgewohnheiten. Sie überzeugten viele, so auch mich, daß humanistische und demokratische Werte für Sie zur Grundlage Ihres Lebens, Ihrer Arbeit und Ihrer Politik werden könnten. Wir waren ja nicht blind: Wir bemerkten typische Eigenschaften eines kommunistischen Funktionärs an Ihrem Verhalten. Doch letzten Endes kämpfte ganz Rußlands damit. Auch wenn man Sie nicht liebte, verstand man Sie.

Zwar beteuerten Sie in den letzten Jahren stets Ihre unerschütterliche Verbundenheit mit demokratischen Idealen. Sie begannen jedoch langsam, aber sicher diesen Kurs zu ändern. Jetzt versucht Ihr Machtapparat, den Staat in eine Richtung zu lenken, die der vom August 1991 genau entgegengesetzt ist. Das bringt mich dazu, öffentlich meine Position deutlich zu machen. Ich werde hier nicht Ihre zahlreichen Fehler aufzählen. Es geht hier nicht um konkrete Mißerfolge, sondern um die Gründe dafür, das heißt: die prinzipiell falsche Wahl politischer Prioritäten und Kriterien. Bereits Ende 1993 und auch danach haben Sie nicht die Entscheidungen getroffen, die die Position des Rechts in einer demokratischen Gesellschaft hätten stärken können. Vielmehr waren die Entscheidungen so, daß die grausame Macht der Staatsmaschinerie wiederhergestellt wurde. Diese steht über Recht und Gesetz und den Menschen.

In den tragischen Tagen des Herbstes 1993 habe ich, nicht ohne Zweifel, beschlossen, Sie zu unterstützen. Dafür stehle ich mich nicht aus der Verantwortung. Ich nahm an, daß die Anwendung von Gewalt, angesichts eines drohenden Bürgerkrieges, wenn auch verhängnisvoll, so doch notwendig war. Damals wurde mir klar, daß diese Ereignisse auch dazu führen können, daß der Staat beginnen würde, Gewalt als geeignetes Instrument zur Lösung politischer Probleme einzusetzen. Gleichzeitig hoffte ich aber auf etwas anderes, sobald die Legitimitätskrise überwunden und in Rußland eine rechtliche Ausgangsbasis wiederhergestellt sein würde: Daß der Präsident und die Regierung alles mögliche für eine friedliche und freiheitliche Entwicklung des Landes tun würden. Nun, ich habe mich getäuscht.

Die Verfassung von 1993 stattet den Präsidenten mit bedeutenden Vollmachten aus: Er ist der Garant der Rechte und Freiheiten der Bürger. Er gewährleistet ihre Sicherheit und erhält Gesetz und Ordnung im Staat aufrecht. Wie sind Sie mit diesen Vollmachten umgegangen? Sie haben die Gerichtsreform gestoppt, die eine Rechtssprechung unabhängig von den anderen Machtorganen ermöglichen sollte. Sie haben öffentlich das Prinzip verfochten: „Soll es doch auch den Unschuldigen schlechtgehen, solange die Schuldigen bestraft werden.“

Sie haben lauthals den Beginn des Kampfes gegen das organisierte Verbrechen angekündigt. Zu diesem Zweck haben Sie die Verantwortlichen mit weitreichenden Gesetzen und Vollmachten ausgestattet. Ergebnis? Die Verbrecher laufen nach wie vor frei herum, und die gesetzestreuen Bürger, weiter gefährdet, müssen auch noch die Willkür der Uniformierten ertragen.

Sie haben die Aufrechterhaltung und Stärkung der russischen Föderation zu Ihrem Ziel erklärt. Ergebnis? Ein schändlicher und dilettantischer Bürgerkrieg, der schon länger als ein Jahr im Nordkaukasus tobt. Sie wollten die Verteidigungsfähigkeit Rußlands stärken, haben aber alle Versuche einer Militärreform unterbunden. Ergebnis: Die Ausgaben für die Armee wachsen, die Anzahl der Generäle steigt ins Unermeßliche. Um ihre Existenz zu rechtfertigen, verlängert man den Wehrdienst und macht vorübergehende Entlassungen wieder rückgängig.

Und die Soldaten und Offiziere? Arm, heruntergekommen und hungrig. Und die Tradition von Erniedrigung, Rechtlosigkeit und Korruption wird fortgeführt. Sie sprechen von offener Politik, Glasnost und Öffentlichkeit. Gleichzeitig unterzeichnen Sie geheime Verordnungen, die die wichtigsten Staatsangelegenheiten betreffen. Sie schaffen geschlossene Institutionen und verheimlichen Informationen über die Tätigkeit der Machtorgane und die Situation im Land. Der Mechanismus, wie präsidentielle Entscheidungen getroffen werden, ist wieder so undurchsichtig, wie zu Zeiten des Politbüros der KPdSU. Es ist ja kein Geheimnis, daß Sie sich bei Ihrer Tätigkeit immer stärker auf die Geheimdienste stützen. Sind deren Unglaubwürdigkeit und wahren Ziele Ihnen immer noch nicht klar geworden?

Die Richtung ihrer Personalpolitik wird immer offensichtlicher. Anfangs gab es in Ihrem Umfeld nicht wenige kompetente und uneigennützige Mitarbeiter. Und diejenigen, deren einziges Verdienst persönliche Ergebenheit gegenüber dem Präsidenten war, nahmen Sie natürlich um so lieber. Dieses letztgenannte, sowjetische Parteiprinzip der Auswahl von Mitarbeitern ist immer wichtiger geworden. Diejenigen, die über diese Eigenschaft nicht in ausreichendem Maße verfügen, wurden aus Ihrem Apparat und anderen Regierungsinstitutionen entfernt.

Noch schlimmer ist, daß sogar in diesem kleinen Kreis von „treu Ergebenen“ eine Art der natürlichen Auslese stattfindet. Besonders erfolgreich sind diejenigen, die, vor aller Augen, nur ihre eigenen, wenn nicht sogar kriminellen Interessen durchsetzen. Ergebnis: Schauen Sie sich Ihre heutigen Genossen an. Und Sie brauchen sich nicht mehr darüber zu wundern, daß das Land Ihren Schützlingen, und folglich auch Ihnen, nicht mehr vertraut. Aber Sie und alle hohen Staatsbeamten kümmert die Meinung der Menschen wenig.

In Zeiten der Krise, anstatt offener und ehrlicher Erklärungen, tischen Sie und die von Ihnen ernannten Behördenchefs uns solche offensichtlichen und hilflosen Lügen auf, daß man Angst bekommt. Die schmale Brücke des Vertrauens zwischen der Gesellschaft und dem Staat, die mit Mühe entgegen einer hundertjährigen Tradition errichtet wurde, ist wieder zerstört.

Ein Jahr nach den Ereignissen vom Oktober in Moskau haben Sie den Krieg in Tschetschenien ausgelöst. Die Mißachtung des Rechts, die Verletzung der Verfassung, der moralische Verfall der Armee, die schreiende Inkompetenz der Sicherheitsdienste, der Karrierismus führender Behördenvertreter, die plumpen und zynischen Lügen, die von den führenden Persönlichkeiten des Staates verbreitet werden: Alles dieses ist hier in vollem Maße zutage getreten. Doch in dieser Krise hat sich auf schreckliche Weise noch eine Eigenschaft dieses Regimes gezeigt: Die vollkommene Mißachtung des Lebens als solches. 20.000, 30.000. 40.000 Tote: Na und? Wir wissen nicht einmal genau, wer und wie viele es waren – Zivilisten, russische Soldaten oder Rebellen.

Blut zählte in Rußland von jeher nicht viel, besonders bei den Bolschewiken. Aber Sie haben dieser schändlichen Tradition eine neue „demokratische“ und „humanistische“ Seite hinzugefügt. Ein ganzes Jahr wurden in Tschetschenien die „verfassungsmäßige Ordnung“ und die „Bürgerrechte“ mit Raketen und Bomben wiederhergestellt. Die Farce „freier Wahlen“ mußte zu einem Konflikt führen und die schwache Hoffnung auf einen Frieden in der Region zerstören. Genauso war es in Perwomaiskja. Dort haben Sie unter dem Deckmäntelchen der Geiselbefreiung eine grausame Bestrafungsaktion durchgeführt, deren wirkliches Ziel ganz und gar nicht die Befreiung unschuldiger Menschen war. Diese Gewalt und die heuchlerischen Versuche, sie schönzureden, haben Sie zu verantworten. Haben Sie und jene Halbgebildeten, die Sie zu dem Krieg in Tschetschenien getrieben haben, überhaupt verstanden, daß das Blutvergießen zu Intoleranz, Rache, Lügen und Gewalt führt?

Es liegt mir fern, nur Ihnen allein die Schuld zu geben. Der Totalitarismus, dem ein starker, wenn auch nicht tödlicher Schlag versetzt wurde, wehrt sich auf seine eigene Art: Die Reproduktion der Krise, die Demoralisierung der Gesellschaft, der Wandel der gesellschaftlichen Werte. Ihre persönliche Schuld besteht darin, daß Sie diesen Tendenzen nicht entgegengewirkt, sondern sie sogar noch gefördert haben. Haben Sie vielleicht gedacht, daß Sie ein großes Rußland zum Wohl seiner Bürger errichten? Nein, Ihre heutige Politik wird innerhalb kurzer Zeit einen Staat wiederherstellen, in dem der Rechtlosigkeit Tür und Tor geöffnet ist: Sie stellen den alten bolschewistischen Sumpf wieder her, nur ist die kommunistische Phraseologie noch durch eine antikommunistische Rhetorik ersetzt.

Als zielstrebiger und energiegeladener Kämpfer gegen offizielle Lügen und die Despotie der Partei haben Sie Ihre demokratische Karriere begonnen. Beenden werden Sie sie als höriger Erfüllungsgehilfe der Machtbessenen aus Ihrer nächsten Umgebung. Obwohl Sie demokratische Werte und Prinzipien aufgegeben haben, pochen Sie weiter auf Demokratie. Und so glaubt ein naiver Mensch heute immer noch, daß im Kreml Demokraten an der Macht seien. Ihre Politik hat selbst dieses Wort kompromittiert. Wenn es in Rußland eine Demokratie geben wird – und ich glaube daran –, dann nicht wegen, sondern trotz Ihnen. Bitter ist für mich vor allem, daß Sie gegen sich selbst verloren haben. Aus dem Gebietsparteisekretär ist ein Apparatschik und kein Mensch geworden. Möglich gewesen wäre das.

Sie haben gewählt. Bald werden auch wir wählen. Jetzt präsentieren Sie sich als einzige Alternative zu Sjuganow und Schirinowski(*). Mitnichten: Zwischen Euch gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Aber wenn wir zwischen Euch wählen müssen, wird unsere freie Willensäußerung eher eine Wahl zwischen Exponenten der Mafia sein. Viele werden schweren Herzens demjenigen ihre Stimme geben, von dem sie weniger Steuern und mehr Sicherheit erwarten. Ich akzeptiere weder die „Roten“ noch die „Braunen“. Doch für Sie werde ich auch nicht stimmen. Und anderen anständigen Menschen werde ich das ebenfalls nicht raten.

Ich habe es als Pflicht angesehen, solange in Ihrem Apparat zu bleiben, wie ich mich, wenn auch nur in einzelnen Fällen, der unrechtmäßigen und unmenschlichen Tendenzen der Politik widersetzen konnte.

Vielleicht sind auch jetzt noch nicht alle Möglichkeiten dazu ausgeschöpft. Doch ich kann nicht weiter mit einem Präsidenten zusammenarbeiten, der nicht mehr auf der Seite der Demokraten steht und nicht länger Garant der Rechte und Freiheiten der Bürger meines Landes ist. Hiermit teile ich Ihnen mit, daß ich von diesem Tag an den Vorsitz der Kommission für Menschenrechte beim Präsidenten niederlege und aus dem Präsidialrat und anderen Gremien des Präsidenten ausscheide. Ich glaube, daß Sie meinen Rücktritt nicht bedauern werden. Ich tue es auch nicht.

Sergej Kowaljow, Abgeordneter der Duma

(*) Gennadi Sjuganow ist Vorsitzender der Kommunistischen Partei Rußlands. Wladimir Shirinowksi, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei Rußlands, vertritt rechtsradikale Positionen.

Übersetzung: Barbara Oertel