: Moratorium für gläsernen Patienten
In zwei Jahren müssen alle Ärzte ihre Diagnosen als Computercodes den Krankenkassen melden. Die Proteste halten an, und die Bündnisgrünen erwägen eine Gesetzesinitiative ■ Von Vera Gaserow
Berlin (taz) – Der medizinische Diagnoseschlüssel ICD 10 ist aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Nach einer Überarbeitung durch Krankenkassen, Ärzte und Datenschützer soll er ab 1. Januar 1998 eingeführt werden. Bis dahin soll die Verschlüsselung von Patientendaten nur Modellversuch sein. Darauf haben sich gestern das Bundesgesundheitsministerium und der Bundesdatenschutzbeauftragte Jacob geeinigt.
Mehr als 30.000 Mediziner hatten in den vergangenen Wochen gegen den ICD 10 Front gemacht, der bereits zum 1. 1. 96 eingeführt werden sollte. Per Gesetz sollten Ärzte verpflichtet sein, ihre Diagnosen nach einem computerlesbaren Schlüssel an kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen zu melden. Dabei sollten die Weißkittel zwischen 14.000 verschiedenen Diagnosen eines Katalogs wählen können, der auch Codes für abweichendes Verhalten, Alkoholmißbrauch oder sexuelle Gewohnheiten enthält. Die Mediziner hatten in der computerlesbaren Aufbereitung der Daten die Gefahr der Schaffung von „gläsernen Patienten“ gesehen. Mit ihrem massiven Protest hat die Ärzteschaft jetzt einen Teilerfolg errungen. Der Code soll überarbeitet und auf datenschutzrechtliche Bedenken hin geprüft werden. An der Notwendigkeit der Verschlüsselung von Patientendiagnosen halte man jedoch fest, hieß es aus dem Bundesgesundheitsministerium. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte habe keine grundsätzlichen Einwände gegen die Codierung erhoben. Datenschützer Jacob hatte die Detailliertheit des ICD 10 kritisiert. Die sensiblen Patientendaten, so hatte er in der taz gewarnt, könnten Begehrlichkeiten wecken und zu anderen Zwecken als nur zur Kostenkontrolle im Gesundheitswesen genutzt werden.
Mit der vorläufigen Aussetzung des ICD 10 will sich die bundesweite Ärzteinitiative, die in den vergangenen Wochen den Widerstand gegen die Codierungspläne initiiert hatte, nicht zufrieden geben. Sie verlangt eine endgültige Streichung des umstrittenen Schlüssels. Darauf jedoch will sich Gesundheitsminister Seehofer nicht einlassen. Trotz des Moratoriums will er das Gesetz nicht ändern, das die Ärzte zur Anwendung des Codes verpflichtet. Ein Vorhaben von Bündnis 90/Die Grünen könnte dieses Gesetz aber doch noch zu Fall bringen. Die Grünen wollen einen Gesetzentwurf zur Streichung des ICD 10 in den Bundestag einbringen. Bei der Abstimmung über diesen Entwurf müßte dann auch die FDP Flagge zeigen, die ihren Koalitionspartner CDU/CSU in der letzten Woche für die Codierungspläne heftig gescholten hatte.
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