"Das ist keine Kapitualation"

■ Die Rufe nach Rücktritt wurden immer lauter. Der polnische Ministerpräsident Jozef Olesky mußte jetzt wegen der Spionagevorwürfe doch noch seinen Hut nehmen. Für ihn ist das alles eine politische Intrige Aus

„Das ist keine Kapitualation“

Polen Regierungschef Józef Olesky atmete tief durch und schluckte: „Um der Staatsräson willen trete ich als Ministerpräsident zurück.“ Der Grund dafür, daß er jetzt doch noch seinen Hut nehmen mußte: Wenige Stunden zuvor hat die Warschauer Militärstaatsanwaltschaft formell die Ermittlungen gegen ihn wegen des Verdachts der Spionage für den russischen Geheimdienst KGB eingeleitet. Seit über einem Monat schwelte in Polen bereits der politische Brand, der die junge Demokratie in eine beispiellose Regierungskrise stürzte. Über Wochen hinweg sah der öffentlich der Spionage bezichtigte Regierungschef Oleksy keinen Grund, sein Amt ruhen zu lassen. Er regierte weiter, entließ seine Gegner und erschütterte das Vertrauen in die polnische Demokratie. Am Mittwoch abend dann, nach den Hauptnachrichten, wandte sich Oleksy an seine Landsleute: „Das ist keine Kapitulation! Ich trete zurück, weil ich unschuldig bin!“

Der 49jährige, der gerade mal ein knappes Jahr regiert hatte, saß vor der rot-weißen Nationalflagge Polens und wirkte wie ein Autoverleiher, der seiner Versicherung einen Totalschaden meldete: „Ich habe nichts zu verbergen. Ich fürchte mich nicht vor einem klärenden Ermittlungsverfahren.“ Der sonst so freundlich blickende Mann mit Mondgesicht und Doppelkinn sah angeschlagen, aber gefaßt in die Kamera. Seit vier Uhr nachmittags konnte auch er jede halbe Stunde dieselbe Nachricht hören. Kühl und professionell verkündete die Sprecherin von Radio Zet: „Die Warschauer Militärstaatsanwaltschaft nimmt das Verfahren auf. Ermittelt wird in der Sache der vorgeblichen Zusammenarbeit des Ministerpräsidenten Józef Oleksy mit dem KGB.“ Für Oleksy bedeutet diese Entscheidung der Staatsanwaltschaft das vorläufige Ende seiner politischen Karriere.

Begonnen hatte die Affäre wie ein gut inszenierter Politthriller: Es ist Nacht in Warschau, Limousinen rollen vor das Präsidentenpalais, wie die Verschwörer treffen sich die höchsten Würdenträger des Staates. Nur einer fehlt bei dem geheimnisvollen Treffen: Józef Oleksy, der Premierminister. Noch in der gleichen Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1995 berichtet das Fernsehen: „Polen ist in Gefahr!“ Das Radio hat sogar schon den Täter ausgemacht, der dem KGB zugearbeitet haben soll: „Józef Oleksy ist der Verräter.“ Vom nächsten Tag an stürzen sich Politiker wie Journalisten in die Gerüchteküche.

Auch von einer politischen Intrige wird gesprochen. Als erstes stößt man auf Walesa: Der hat die Wahlen verloren und kann den Verlust des Präsidentensessels nicht verschmerzen, dann auf den Innenminister Andrzej Milczanowski: Der hat noch in der Wahlnacht, als der gerade gewählte Staatspräsident Aleksander Kwasniewski die Champagnerkorken knallen ließ, seinen Rücktritt verkündet. Jetzt, zwei Tage, bevor er die Tür des Innenministeriums endgültig hinter sich zuzieht, bezichtigt er den Parteifreund Kwasniewskis der Spionage für den sowjetischen, später russischen Geheimdienst. Das Motiv: Rache. Kleinlich und unberechenbar haben der „Große Elektriker“ und seine Mannen das Land ins Chaos gestürzt. Will Walesa womöglich den Ausnahmezustand verhängen? Droht Polen ein neues Kriegsrecht?

Wenige Stunden, nachdem das Militärgericht die Akte mit den Dokumenten und Beweisen an das Innenministerium zurückgegeben hat: „Die Akte ist in zwölf Punkten zu ergänzen und erneut einzureichen“, entläßt Józef Oleksy den stellvertretenden Innenminister Henryk Jasik. Auch der Innenminister Milczanowski ist nicht mehr im Amt. Zu seinem kommissarischen Nachfolger ernennt Oleksy zunächst seinen Parteifreund Zbigniew Sobotka, schließlich Jerzy Konieczny, Chef des Geheimdienstes von 1992 bis 1993, später Berater von Józef Oleksy. Der macht sich mit der Akte vertraut und erklärt umgehend, daß er an Stelle Milczanowskis anders gehandelt hätte. Die Akte sei zu früh bei der Staatsanwaltschaft gelandet. Die Gegenseite vermutet sofort, daß der neue Innenminister mit dem Jusitizminister gemeinsame Sache machen und die ganze Angelegenheit vertuschen will.

Jerzy Jaskiernia gehört wie Józef Oleksy der postkommunistischen Sozialdemokratischen Partei (SdRP) an. Er hatte, als die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen den Präsidentschaftskandidaten Aleksander Kwasniewski (SdRP) eröffnen wollte, die Staatsanwälte entlassen. Vor dem Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, mußte Milczanowski seinen dramatischen Schritt begründen. Im Hohen Haus fielen unglaubliche Worte: Oleksy, der bereits seit 1982 mit dem sowjetischen, später russsichen Geheimdienst in engem Kontakt gestanden habe, soll diese Kontakte auch nach der politischen Wende in Polen aufrechterhalten haben. Er soll bewußt Informationen und geheime Materialien weitergegeben haben, unter anderem eine Liste der vom polnischen Geheimdienst bereits entdeckten russischen Spione. Inzwischen wanderten die ersten dunklen Gestalten von der letzten Seite der Zeitungen und Zeitschriften auf das Titelblatt. Ein enttarnter KGB-Spion gab in Moskau eine Pressekonferenz: „Oleksy ist mein Freund. Wir haben uns aber nur privat getroffen.“

Die Geschichte wird immer absurder. Jener Wladimir Alganow traf sich als russischer Diplomat nicht nur regelmäßig mit Oleksy, sondern auch mit Marian Zacharski, dem Topspion des polnischen Geheimdienstes. Die beiden spielten in aller Öffentlichkeit Tennis miteinander. Zu einem Geheimtreffen, in dem Alganow Zacharski Dokumente über Oleksy überreicht haben soll, jetten die beiden eigens nach Mallorca, der eine getarnt als „Schweizer Geschäftsmann mit attraktiver Begleitung“.

Wenig später veröffentlicht das Posener Nachrichtenmagazin Wprost eine Geschichte, die den Polen die Haare zu Berge stehen läßt. Neben Oleksy, dessen angeblicher Codename „Olin“ bereits seit Tagen in der Presse kursiert, soll fast die gesamte Führungsspitze der SdRP vom KGB „ gekauft“ worden sein. Aleksander Kwasniewski soll nicht nur die Gründung der Sozialdemokratischen Partei mit „Moskauer Geldern“ bezahlt haben, sondern auch den eigenen Präsidentschaftswahlkampf. Postwendend wird der Chefredakteur des Magazins von einer anderen Posener Zeitung als KGB-Spion geoutet. In Polen bricht die „szpiegomania“ aus, die Spionagehysterie. Aus Moskau meldet sich Aleksander Oskin, der ehemalige erste Botschaftssekretär der russischen Botschaft in Warschau, und „verrät“: „Lech Walesa und die Führungsspitze der Gewerkschaft Solidarność haben in den 80er Jahren geheime Kontakte zur sowjetischen Botschaft unterhalten.“ Immerhin bewahren die „Zwölf Gerechten“, Abgeordnete aus allen im Sejm vertretenen Parteien, einen ruhigen Kopf. Sie sollen in einem Sonderausschuß klären, ob der polnische Geheimdienst, der die Beweise gegen Oleksy gesammelt hatte, rechtmäßig vorgegangen ist.

Die Journalisten belagern die Abgeordneten, halten ihnen die Mikrofone unter die Nase, brüllen Fragen auch schon mal im Chor. Doch meist warten sie vergeblich vor verschlossenen Türen. Das nervt zunehmend nicht nur die polnischen Kowalskis, sondern auch Aleksander Kwasniewski, der zur Großoffensive bläst: „Lustracja“ heißt das Schlagwort: „Durchleuchtung“. Die bisherigen Geheimakten sollen offengelegt werden. Alle. Das hat zwar nicht direkt mit Oleksy zu tun, denn hier kamen die Beweise zum größten Teil von einem KGB-Überläufer, aber es klingt so, als wolle sich die SdRP nun endlich doch mit der Vergangenheit befassen. Oleksys Unschuldsbekenntnis aber hören die Polen noch am 24. Januar jede halbe Stunde im Radio: „Vor euch, Polen, bekenne ich: Niemals habe ich Polen verraten. Niemals habe ich meinem Vaterland geschadet.“