Sonst erlebt man ja nichts

■ Zeichnen als Entdeckungsreise: Veronika Schumacher erhält heute den Bremer Förderpreis für Kunst

Eben noch hat sie ihr Diplom gemacht. Schon hängt ihre Abschlußarbeit in der Städtischen Galerie. Und heute bekommt sie dafür den Bremer Förderpreis für bildende Kunst: Mit der HfK-Absolventin Veronika Schumacher, Jahrgang –69, stellt die Jury die Zeichen auf wirklich junge Kunst.

Mit der Entscheidung gegen schon ausgereifte Kunstpositionen nimmt die Jury – das war jahrelang nicht der Fall – die Funktion des Förderpreises wieder wörtlich. Der soll nämlich einen vielversprechenden künstlerischen Ansatz, soll die Entwicklung fördern.

In diesem Sinne sind die 10.000 Mark Preisgeld (plus 5.000 für eine Einzelausstellung) gut angelegt. Denn Offenheit ist das Prinzip von Schumachers Arbeit. Wie ein Zeichenkatalog, der auf seine Fortsetzung wartet, wirken die 48 Blätter ihrer Diplomarbeit. Auf Millimeterpapier versammelt sie Motive aus Anatomiebüchern, Superheldencomics, Kunstbänden und Werbeanzeigen. Gezeichnet, gemalt, ausgerissen, alles locker verstreut. Das wirkt häufig zwar etwas beliebig. Die Auswahlkriterien entziehen sich allerdings einer Festlegung auf einen einzigen Zweck, eine einzige Aussage. Was aufs Papier kommt, entscheide sie „bewußt und unbewußt“ zugleich, sagt Schumacher. Sie erfindet die alten Zeichen immer wieder neu, ohne zwanghaft deren kunstgeschichtlichen Kontext zu reflektieren.

So verlieren die Motive auch ihre angestammte Form. Die Madonnenköpfe, die Skelette und die Luxuskörper der Superhelden werden eben nicht brav abgepinselt. Auch da löst sich Schumacher von der Konvention. Oft wird das Medium Zeichnung ja als kunsthandwerkliches Übungsgelände mißverstanden: Man brilliert mit technischem Können, mit dem genial hingeworfenen Entwurf oder der perfekten, naturgetreuen Wiedergabe. Schumacher aber ringt mit jedem Strich. Richtig oder falsch, schön oder häßlich: Die alten Kategorien sind aufgehoben, neue sind eben erst im Entstehen. Zug um langsamen Zug wird überdacht, wohin die Reise geht – „sonst erlebt man ja nichts beim Zeichnen“.

Das schließt Irrwege nicht aus. Manche Linie bricht ab, mancher Pinselstrich versandet in der weiten Fläche. Aber wer sich in diesen verwirrenden Zeichenkatalog versenkt, auf den überträgt sich Schumachers Entdeckerlust unweigerlich. Und dem erzählen die Madonnenköpfe plötzlich ganz neue Geschichten, frei von der Last der tradierten Ikonografie.

Es spricht für den genauen Blick der Juroren, daß sie einem so subtilen Ansatz den Vorrang gaben vor knalligeren Kunststücken. Der Trödel der Floh- und Selbstbaumärkte bildet das Material für zwei raumgreifende Installationen, mit denen sich Christian Hoischen und Achim Bitter um den Preis bewarben. Bitter ordnet die ausrangierten Blechbüchsen, Radkappen und Spielzeuge sorgfältig zu neuen, nach Form und Farbe schlüssigen Ensembles. Hoischen geht noch weiter: Er nimmt mit den Resten vorlieb, die übrigbleiben, wenn alle Regale leergekauft sind. Sperrholzkisten gähnen Dich an, Dübellöcher glotzen in die Gegend. Neonröhren, unverblendet; Reklametafeln ohne Reklame: Im Treibgut der Trabantensiedlungen entlarvt sich der ganze, blanke Irrsinn.

Das ist alles sehr wahr, ist hübsch plakativ, aber auch allzu wohlgerundet. Sonderlich ausbaufähig erscheinen diese Konzepte jedenfalls nicht. Dafür liegen sie voll im Trend: Die „Kultur der Peripherie“, das hat die neue „documenta“-Chefin ja schon ex cathedra verkündet, gehört zu den derzeit angesagtesten Kunstthemen. Thomas Wolff

Ausstellung aller 12 Bewerber bis 18.2. in der Städtischen Galerie; Preisverleihung Samstag um 19 Uhr (Buntentorsteinweg 112)