Unbestimmbarkeit als Moment der Moderne

■ Der Soziologie-Professor Zygmunt Baumann stellt morgen abend sein Konzept der Postmoderne vor

Soviel Tugend war noch nie. Prinzipien, Normen und Werte, allerlei Manifeste, Ratgeber oder auch Appelle zirkulieren mit lautem Getöse, rufen auf zur Sparsamkeit, ermahnen zur Bescheidenheit, erinnern an Verantwortung, fordern abwechselnd einen sorgsamen Umgang mit der Natur, ein Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs, mehr soziales Engagement, die ,selbstbewußte Nation' oder weltweite Bundeswehreinsätze. Und so weiter und so fort, die Moral scheint grenzenlos, endlich wagt sie sich wieder hervor, nachdem sie ein ungebremster Fortschrittsimperativ und Machbarkeitsglaube fast schon vergessen machte. Chaos, Krise und Katastrophe, die Welt hebt aus den Angeln, der Staat ist in Not, Gott ist tot, und wir wollen trotzdem wissen, wo's lang geht.

Die Sinnstiftungsunternehmer haben Konjunktur. Das mag nicht nur die freuen, deren dringendes Orientierungsbedürfnis endlich befriedigt werden kann, sondern auch diejenigen, die sich davon ein einträgliches Geschäft versprechen – ob politisch oder finanziell oder beides zusammen. Markt und Moral schließen sich nicht unbedingt aus, sie ergänzen sich mitunter auf das beste.

Dies macht sie mit guten Gründen verdächtig, die Ödnis unserer bunten Warenwelt schönzureden und den selbstzerstörerischen Effet der bürgerlich-kapitalistischen Moderne im Nachhinein auch noch zu rechtfertigen. Dennoch kann sich auch dieser Generalverdacht gegen jedwede Sinnstiftung nicht in Sicherheit und schon gar nicht in Unschuld wiegen.

Dezisionismus, Relativismus und (populistisch-zynischer) Nihilismus heißen die Schreckgespinste, die immer schon denjenigen eingeholt haben werden, der sich leichtfertig und selbstgerecht über die Verhältnisse erhaben fühlt.

Vor diesem Hintergrund Politik und Ethik zu nicht ermäßigten Bedingungen zu denken, ist seit jeher das Anliegen des mittlerweile emeritierten Professors für Soziologie an der Universität Leeds, Zygmunt Baumann. Sein Konzept der Postmoderne als „illusionslose Moderne“ versucht, gerade im notwendigen Verzicht auf die Flucht in den abstrakten Ideenhimmel universaler Geltung und apriorischer Setzungen, „die Quellen moralischer Kraft, die in der modernen Moralphilosophie und politischen Praxis verborgen bleiben, anschaulich“ zu machen „und gleichzeitig die Gründe ihrer früheren Unsichtbarkeit besser“ zu verstehen.

Dabei begreift Baumann die Moderne nicht so sehr als geschlossene Totalität, sondern eher als mächtige Tendenz des technischen, industriellen und wissenschaftlichen Fortschritts, der gegen seine eigene säkulare Absicht, das nicht Faßbare zu umfassen und überhaupt das Unerklärliche wegzuerklären, immerzu neue Ambivalenzen produziert. Die Unbestimmbarkeit ist ein wesentliches Moment der Moderne, ohne daß sie sich dies eingestehen wollte noch könnte.

Die ,Postmoderne' markiert demgegenüber keineswegs eine zeitliche Nachfolge, ein ,Nach der Moderne', als sie die konstitutiven Ambivalenzen weder nur denunziert noch mit einer bloß noch raffinierteren Erklärung aus der Welt schaffen will. Ausgehend von der unaufhebbaren Unbestimmtheit und gegen die Betriebsblindheit der Moderne fragt Baumann nach den uneinholbaren Voraussetzungen. So eröffnet er eine neue Perspektive auf moralische Phänomene, was besonders in seiner Auseinandersetzung mit der Sozialphilosophie Emmanuel Lévinas' deutlich wird: Die Ambivalenz hat sich unwiderruflich der Moral eingeschrieben, sie ist nicht rationalisierbar, aber zugleich auch unbedingte Voraussetzung, sie ist insofern nicht regelgeleitet und stets gefährdet, sie ist nicht universalisierbar und verliert sich dennoch nicht im Relativismus, weil sie die Begegnung mit dem anderen, dessen Antlitz, als Urszene moralischer Verantwortung, als fundamentale Asymmetrie erfährt.

Christian Schlüter

Zygmunt Baumann liest morgen, 20 Uhr, Literaturhaus; anschließend Gespräch mit J.P. Reemtsma