Später Ruhm für eine Einzelkämpferin

■ Gesichter der Großstadt: Die Komponistin Grete von Zieritz hat sich in einer Männerdomäne behauptet. Die 96jährige sagt selbstbewußt: „Männer erfinden Modetrends, um ihre schlechte Musik zu verkaufen“

Als Grete von Zieritz 1917 nach Berlin kam, war sie gerade achtzehn, und es war Krieg. Doch in der Metropole des deutschen Kaiserreiches entstand bereits ein zweites Berlin: die Hauptstadt der Avantgarde. KünstlerInnen aller Sparten strömten herbei, erprobten neue expressive Möglichkeiten, experimentierten mit Form und Farbe, Klang und Melodie.

„Ich konnte einfach nicht nach Graz zurückkehren“, sagt die 96jährige heute, als wäre das damals eine Selbstverständlichkeit gewesen. Ihre Eltern – ein k. u. k. Offizier und eine Malerin – wollten, daß sie nach einem dreimonatigen Aufbaustudium in der Klavierklasse von Martin Krause nach Graz zurückkehre und dann am Steiermärkischen Musikverein unterrichte. Doch sie blieb.

Die ersten Jahre in Berlin schlug sie sich als Konzertpianistin durch, und für kurze Zeit hatte sie einen Lehrauftrag am Sternschen Konservatorium. Den gab sie bald wieder auf, weil ihr zu wenig Zeit für die Komposition blieb. Auch ihre kurze Ehe mit dem Schriftsteller Herbert Gigler wurde bald geschieden. Grete wollte unabhängig sein, und das nicht nur von Haus und Herd. Gerade ein „weiblicher Komponist“ müsse einzig auf die eigene Intuition vertrauen und dürfe sich niemals an irgendwelchen Moden orientieren. Die würden von Männern erfunden, um ihre schlechte Musik zu verkaufen.

Wenn sie „Zwölftonmusik“ hört, verzieht sie verächtlich das Gesicht. Eine Männermode eben, längst vergessen.

Mit der Frauenbewegung hatte sie nichts am Hut

Stolz zeigt mir die alte Dame ein Konzertprogramm vom Februar dieses Jahres aus Dessau. Ihr Name ist rot unterstrichen. „Ich war die einzige Frau.“ Früher hätte sie gerne Aufträge fürs Ballett bekommen, doch da waren die männlichen Kollegen immer schneller. Also schrieb sie Stücke für einzelne TänzerInnen und nach dem Zweiten Weltkrieg auch für den SFB. „Ich mußte immer kämpfen.“

Grete von Zieritz war eine dieser „neuen Frauen“ der zwanziger Jahre, die den Moralvorstellungen des Kaiserreiches Hohn sprachen und ihr eigenes Leben führten. Sie ließ Tradition, Familie und Heimat weit hinter sich. Doch wie die meisten ihrer Zeitgenossinnen hat auch Grete von Zieritz sich um die Emanzipationsbestrebungen der Frauenbewegung nicht gekümmert. „Ihr müßt mit den Männern reden“, hat sie denen gesagt. „Die versagen uns die Anerkennung.“

Ein Leichenzug inspirierte sie zur ersten Komposition

Die Zieritz lebt in ihrer eigenen Welt. Wenn sie an ihre Kindheit denkt, fällt ihr als erstes eine Episode aus dem Jahr 1905 ein. Sie wohnten damals in Wien, in einer Stadt also, der man bekanntlich Nekrophilie nachsagt. Und wie auf das Klischee gemünzt, bezieht sich ihre erste Erinnerung auf einen langen Leichenzug, den sie aus dem Fenster ihrer Wohnung im Habsburger Palais beobachtete. Das rhythmische Geklapper der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und die würdevolle Trauer der schwarzen Menschentraube, die sich langsam durch die Gasse wälzte, inspirierten die Siebenjährige zu ihrer ersten Improvisation am Klavier. Seitdem lebt sie in diesem Universum der Töne, Akkorde, Harmonien und Kadenzen. Wenn das Geld knapp wurde, gab sie Klavierstunden, aber was auf der Straße vor sich ging, entzog sich ihrer Wahrnehmung.

Natürlich war sie nicht in der Partei, aber die Nazis ließen sie gewähren. Sie hatten im allgemeinen nichts gegen die hochexpressive, an der Spätromantik orientierten Musik der jungen Frau aus der Ostmark. Nur einmal, noch vor der „Machtergreifung“, schickte ihr Josef Goebbels die SA ins Haus. Das war nach der Uraufführung ihrer „Passion im Urwald“, die sie hinter dem Rücken ihres Lehrers bei der Philharmonie eingereicht hatte. Es sei unmöglich, daß eine junge, blonde, deutsche Frau „Neger“ verherrliche. Sie lacht. Damals ging es ihr darum, die Stimmung des Dschungels wiederzugeben.

Wer sie in ihrer Charlottenburger Hinterhauswohnung besucht, stutzt bei dem Anblick des vergilbten Türschildes. Professor Grete v. Zieritz & Toska Lettow heißt es in altdeutschen Lettern über der Klingel. Toska war der einzige Mensch, mit dem die Einzelkämpferin jemals ihr Leben teilte. In den dreißiger Jahren hatte Toska einmal für Grete in der Bismarckoper die Noten umgeblättert, und seitdem haben die beiden Frauen fünfzig Jahre zusammen gelebt. Toska Lettow arbeitete tagsüber als Sekretärin, nachts schrieb sie Gedichte. „Es war eine außergewöhnliche Freundschaft“, sagte Grete von Zieritz. Das alte Schild blieb hängen, zum Andenken.

Der Durchbruch kam erst in den achtziger Jahren

Seit Mitte der achtziger Jahre wohnt die Komponistin allein. Die Wände ihrer geräumigen Wohnung sind vergilbt, die behäbigen Möbel abgeschabt. Doch die Hochglanzplakate inmitten der staubigen Eleganz geben Zeugnis von spätem Ruhm: Berliner Festwochen 1985, Moskau 1988, Bern 1994. Seit dem durchschlagenden Erfolg ihrer „Zigeunerlieder“ für Sologeige und großes Orchester auf den Festwochen wurde auch so manches alte Stück endlich uraufgeführt. Seit sieben Jahren braucht sie einen Sekretär für ihre Organisation. Berge von Papier stapeln sich auf seinem Platz an dem Eßtisch unter dem riesigen Jugendstillüster. Andreas Wolf erledigt die Post, verhandelt mit Veranstaltern und begleitet die zierliche alte Frau wie seine Großmutter zu den Aufführungen ihrer Stücke. Auch in Moskau waren sie zusammen, damals, als die Mauer noch stand.

Ihre Augen sind inzwischen schwach geworden, und was über sie geschrieben wird, kann sie nur durch eine große Leselupe entziffern. Komponieren geht schon seit längerem nicht mehr. „Ein Mensch erinnert sich“ für ein Tschernobyl- Benefizkonzert im April 1991 war das letzte Stück der Grete v. Zieritz. Aber alle Uraufführungen will sie noch erleben. Stefanie Flamm